Operndorf von Christoph Schlingensief

Ein Ort, dem Land zuzuhören

Christoph Schlingensief war von der Idee getrieben, von Afrika zu lernen. Vor 15 Jahren wurde der Grundstein für sein Operndorf in Burkina Faso gelegt. Wie sieht es dort heute aus? Ein Besuch

Aus der Vogelperspektive betrachtet beschreiben die Gebäude der kleinen Siedlung eine Spirale, die an ein Schneckenhaus erinnert. Ausgehend von der Krankenstation am äußeren südöstlichen Rand gruppieren sich die einzelnen Gebäude in eineinviertel Windungen um einen Platz, dessen Zentrum ein Gemüsebeet ist. Darunter: eine Art Freiluft-Bühnenraum mit einer hölzernen Tribüne.

Mitten in der Savanne des westafrikanischen Landes Burkina Faso, 35 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Ouagadougou, befand sich vor 15 Jahren nicht viel mehr als rote Erde, Granitfelsen, Wüstenpalmen und Akazien. Damals wurde der erste Stein gelegt für diese ein wenig irrsinnig erscheinende Unternehmung: ein Festspielhaus mitten im Nirgendwo. Auf einem Flecken, auf dem es weder Wasserleitungen noch Strom gab, ganz zu schweigen von einem Mobilfunkmast – dafür aber die einfachen Gehöfte von Familien, die hier seit Jahrhunderten leben.

Schlingensief starb nur ein halbes Jahr nach der Grundsteinlegung

Am 8. Februar 2010 waren sie und unzählige weitere Menschen angereist, um den materiellen Beginn dessen zu feiern, was heute das Operndorf Afrika ist. Sein Initiator, der Film- und Theatermacher Christoph Schlingensief, zählte damals die Elemente des Dorfs auf, das hier entstehen sollte: "Die Schule, die ganze Siedlung, das Festspielhaus, der Ackerbau, das Wasserbassin, Proberäume, Minikinos, Musikstudios, Gästehaus und eine Klinik mit zehn Betten", schrieb er in einem Brief, der kurz darauf im Feuilleton der "Zeit" veröffentlicht wurde. Aus den vielen Ausrufezeichen in seinem Artikel sprechen Schlingensiefs Enthusiasmus und seine überbordende Begeisterung für das Operndorf. Er selbst sollte die Fertigstellung des ersten Gebäudes nicht mehr erleben; nur ein gutes halbes Jahr nach der Grundsteinlegung starb er.

Schlingensiefs Lebenspartnerin, die Kostümbildnerin Aino Laberenz, von Anfang an Teil des Projekts, fragte damals die Chiefs der Gegend – von denen zwölf bei der Grundsteinlegung anwesend waren und damit ihre Zustimmung zum Operndorf gegeben hatten –, ob sie das Bauvorhaben als Direktorin fortführen dürfe. Sie durfte – und tut es bis heute.

Inzwischen sind mit der handwerklichen und finanziellen Hilfe unzähliger Menschen mehr als zwei Dutzend Gebäude und Strukturen entstanden (das Festspielhaus selbst steht noch aus). Neben der Klinik und der Schule samt Kantine für bis zu 300 Kinder gibt es einen Küchengarten, eine kleine Bibliothek, Häuser für das Lehrpersonal sowie die Verwaltung und Unterkünfte für die Künstlerinnen und Künstler, die hier im Rahmen des jährlichen Artist-in-Residence-Programms jeweils drei Monate lang leben und arbeiten. Das Programm, das derzeit vom Auswärtigen Amt finanziert wird, besteht seit mittlerweile einem Jahrzehnt. Seit fünf Jahren kuratiert es der in Berlin lebende britisch-nigerianische Fotograf Akinbode Akinbiyi.

"Zuerst war ich ein bisschen vorsichtig gegenüber einer solchen Intervention von Nicht-Afrikanern in Afrika", sagt Akinbiyi am Telefon über den Moment, als ihm das Amt des Kurators angetragen wurde. "Aber je mehr ich mich mit dem Operndorf beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass es sich um eine gute Sache handelt."

Kunst sollte ein Kernelement des Operndorfs sein

Schlingensief selbst hat immer wieder betont, dass es ihm nie darum ging, wie auch immer geartete Kultur nach Afrika zu importieren. Für ihn war es Oper, wenn ein in der Klinik zur Welt gekommenes Kind seinen ersten Schrei macht – was seither unzählige Male passiert ist. Er wollte, dass "das Verhältnis zwischen den Menschen die höchste Kunstform unserer Welt" sei. Aber klar war auch stets, dass Kunst im engeren Sinne ein Kernelement des Operndorfs sein sollte. Etwa in Gestalt von Kunstunterricht als Teil des Schullehrplans (eine Seltenheit in Burkina Faso) oder in Form von hier veranstalteten Kulturevents wie dem jährlich stattfindenden Kinderfilmfestival Kififi. Und eben mit einem Residenzprogramm.

Womit er nie ein Problem gehabt habe, so Akinbiyi, sei, wenn europäische Kunstschaffende nach Afrika kämen – "solange sie uns nicht sagen wollen, wie wir zu machen haben." Dennoch verschob er den Fokus des Programms: Trafen in der ersten Phase der Operndorf-Residencys europäische Positionen auf afrikanische, so lädt Akinbiyi jetzt schwerpunktmäßig Malerinnen, Theatermenschen, Fotografen, Choreografinnen und Schriftsteller vom afrikanischen Kontinent und aus der Diaspora ein.

"Ganz unabhängig von ihrer Herkunft ist es mir wichtig, dass sich die Eingeladenen vor Ort gut verstehen", sagt Akinbiyi. Er verweist dabei auf den südafrikanischen Begriff Ubuntu: Er bedeutet so viel wie "Menschlichkeit" und basiert auf dem Verständnis gegenseitiger Verbundenheit. Im Operndorf lebt kein Mensch für sich allein; die freistehenden, einander baugleichen Häuser, in denen sowohl das Lehrpersonal als auch die Gäste wohnen, sind luftig gestaltet und hellhörig. Da sind die Tiere – Ziegen, Schafe, Hühner und Enten –, die über das Gelände spazieren. Dazu kommen zwei Hunde, vorüberziehende Rinderherden, manchmal quaken Frösche. Gelegentlich huscht ein Streifenhörnchen vorbei, und zu allen Tages- und Nachtzeiten keckern die Geckos, von denen jedes Haus einen eigenen zu beheimaten scheint.

Als Gravitationszentrum und Treffpunkt dient den Gästen die Küche auf der Dachterrasse eines der Häuser. Die bis zum Horizont reichende Aussicht auf die Ebene wird seit Kurzem von einem Zementwerk mit rauchenden Schloten gestört, das die chinesischen Bauleute dem Vernehmen nach innerhalb weniger Wochen in die Landschaft geklotzt haben.

Der Franc CFA gilt als Instrument nie aufgegebener kolonialer Bestrebungen

Für den aktuellen Jahrgang entschied sich Akinbiyi für drei Positionen: Godelive Kasangati Kabena, geboren in der Demokratischen Republik Kongo, die Marokkanerin Leila Bencharnia und Christopher Nelson Obuh. Der nigerianische Filmemacher und Fotograf Obuh beschäftigt sich während seiner Zeit im Operndorf unter anderem mit dem Franc CFA, zu Deutsch: "Franc der afrikanischen Finanzgemeinschaft". Als Währung von 14 hauptsächlich frankophonen afrikanischen Ländern ist dieser seit 1945 an die Währung der (ehemaligen) Kolonialmacht Frankreich gebunden – seit geraumer Zeit also an den Euro.

Er gilt vielen kritischen Stimmen als mächtiges Instrument nie aufgegebener kolonialer Bestrebungen Frankreichs beziehungsweise Europas sowie des Internationalen Währungsfonds. Diese Währungsbindung wird als ein Hauptgrund für die – auch im Vergleich zu den anglophonen Ländern Afrikas – eklatante Armut in diesen Staaten angesehen. "Ich wollte den CFA rekonstruieren, um damit auf Begriffe wie Dekolonisierung zu reagieren", sagt Obuh. Er zeigt eine der von ihm geremixten Banknoten, der er die Losung der Französischen Republik verpasst hat: Liberté, Égalité, Fraternité. "Es ist offensichtlich, dass Frankreich diese Werte in Afrika nicht praktiziert."

Die Frage, woran sie während ihrer Residency arbeite, beantwortet die marokkanische Komponistin und Soundkünstlerin Leila Bencharnia am Tisch der Küchenterrasse, während der Hausgecko ihre Worte kommentiert. "In meinen ersten Wochen habe ich dem Land zugehört und mich mit der sozialen Komplexität hier auseinandergesetzt", sagt sie. Diese umfasst etwa den Umstand, dass Burkina Faso eines der ärmsten Länder der Welt ist – aber beispielsweise auch, dass Begrüßungen hier eine ernstzunehmende Angelegenheit sind. Keine Begegnung kommt ohne langes Händeschütteln aus, und ohne, dass sich beide Seiten zunächst nach dem Wohlergehen des Gegenübers erkundigen.

Weil ein Dorf hier auf dem Land das Äquivalent einer europäischen Wohnung ist und man also nicht einfach so einen Ort durchquert, ohne sich bei der ältesten anwesenden Person zu melden, kann es passieren, dass Durchreisende die Treppe zur Küche der Residenzkünstler heraufkommen, um sich vorzustellen. Und da wäre als soziale Realität nicht zuletzt die Gemeinschaft, mit der die Gäste hier leben – und umgekehrt. Das sind die Kinder, das Lehrpersonal, die beiden Hausmeister, das Operndorf-Team und die Köchin, die an jedem Wochentag die Anwesenden mit Mittagessen versorgt. Das Operndorf, sagt Bencharnia, unterscheide sich nicht so sehr von dem Ort am Fuße des Atlasgebirges, in dem sie als Mitglied der Amazigh-Community aufgewachsen ist.

Leila Bencharnia versteht Teppiche als Erzählungen

Als Tochter einer Familie, in der das Weben ein Bestandteil des Alltags ist, versteht sie Teppiche als Erzählungen, in die Erfahrungen und Emotionen gleichsam eingewoben sind. "Ein Teppich ist für mich ein Raum des Ungehorsams, der Anklage und der Wahrheit, und ich habe angefangen, diese Textilien als Partitur zu begreifen", sagt sie. Auch sie arbeitet zu postkolonialen Fragen. Burkina Faso unternimmt – genau wie andere frankophone Länder Westafrikas – mithilfe verschiedener Gesetze derzeit Versuche, die Wirtschaft des Landes dem langen Arm Frankreichs zu entziehen, weil dieser auch in den 65 Jahren seit der Unabhängigkeit vor allem genommen hat. Bencharnia befasst sich während ihres Aufenthalts mit Baumwolle, dem wichtigsten landwirtschaftlichen Exportgut des Binnenstaates Burkina Faso. In einer Kooperative arbeitet sie mit hiesigen Arbeiterinnen an der Produktion eines handgewebten Stücks weißen, dichten Baumwollstoffs. "Ziel ist es", so Bencharnia, "eine Partitur zu erstellen, die auf den Erzählungen dieser Frauen basiert. Ich agiere in diesem Fall lediglich als Medium, das zuhört und die Lautstärke dessen erhöht, was sie zu sagen haben."

Obwohl man sich mitten im Nirgendwo wähne, biete der Ort eine reiche Umgebung, sagt Leila Bencharnia über das, was das Operndorf auszeichnet. "Aber nichts ist vorgefertigt. Du musst selbst herausfinden, wie du die Dinge hier beobachtest, aufzeichnest oder – in meinem Fall – zuhörst. Das funktioniert nicht aus einer Konsum- oder extraktiven Haltung heraus." Die Erfahrung, die das Operndorf ermögliche, sei sehr viel tiefgreifender, als dass sie sich mit dem banalen Begriff "Entschleunigung" beschreiben ließe. "Die Stille, die hier herrscht, erlaubt es, anderen Menschen auf andere Weise zuzuhören."

Dabei verhält sich die hiesige Zeit tatsächlich eigentümlich. Sie vergeht gemächlicher, aber in gewisser Hinsicht auch schneller, weil sie sich den herrschenden Umständen unterordnet – nicht umgekehrt. Die Hitze verlangsamt die Bewegungen. (Von Christoph Schlingensief existiert eine Anekdote, wie er zu einem frühen Zeitpunkt voller Ideen im Kopf über das Gelände jagte, während in seinem Windschatten andere vor Erschöpfung und Dehydrierung in Ohnmacht fielen.)

Meist kommt Wasser aus der Leitung, manchmal nicht. Manchmal gibt es Internet, manchmal nicht. Die mehr oder weniger zwölf Stunden zwischen Sonnenauf- und -untergang sind getaktet durch das Krähen der Hähne am Morgen, die Ankunft der ersten Hilfesuchenden in der Klinik, und die Schülerinnen und Schüler, die teils bis zu sechs Kilometer von ihren Dörfern zu Fuß oder mit Fahrrädern zurücklegen. (Wahrscheinlich gibt es kaum ein besseres Sinnbild für den Willen zum Lernen als ein sechsjähriges Kind, das auf einem uralten Erwachsenenfahrrad mit unerreichbar hohem Sattel unverzagt durch die Savanne eiert.) Um 12 Uhr läutet die Glocke zur großen Pause. Das ist auch der Zeitpunkt, ab dem sich die Menschen nicht mehr mit "Bonjour", sondern mit "Bonsoir" grüßen – guten Abend. Um 17 Uhr ist die Schule aus, und die Kinder rennen kreischend zum Fahnenmast, um die burkinabische Flagge einzuholen. Dazu singen sie, unbeaufsichtigt vom Lehrpersonal und voller Inbrunst, die Nationalhymne. Danach kehrt die Stille zurück.

Die Landschaft ist geprägt vom Klima der sudanesischen Zone

"Der Ort mit seiner Landschaft und seinen Gesteinen hat für mich wesenhafte Kräfte", sagt Akinbode Akinbiyi über den Magnetismus dieses Stücks Erde. Den hat Christoph Schlingensief vielleicht als erster Nicht-Burkinabe gespürt, als er den Ort für das Operndorf auftat; Sibylle Dahrendorfs Dokumentarfilm "Das Knistern der Zeit" von 2012 erzählt davon.

Die Landschaft ist geprägt vom Klima der sudanesischen Zone, das heißt entweder von der Regen- oder der Trockenzeit. Letztere dauert etwa von Oktober bis April, und "trocken" heißt in diesem Fall: knochentrocken. Die oft gerade mal zehn Prozent Luftfeuchtigkeit verwandeln Haut in Sandpapier, Buchseiten beginnen zu knistern, und aus ungeschützt liegen gelassenen Salatgurken saugt die Luft innerhalb kürzester Zeit jegliches Wasser. Der heiße Wüstenwind, der Harmattan, der in dieser Zeit aus Richtung der Sahara weht, legt den mitgebrachten Sandstaub auf alle Oberflächen. An manchen Tagen verfärbt der Dunst den Himmel und die Sonne rötlich-gelb. Während es im Dezember und Januar mit Tageshöchsttemperaturen um 32 Grad für hiesige Verhältnisse frisch ist, zieht die Hitze in den Monaten vor der Regenzeit noch einmal deutlich an. Im ländlichen Burkina Faso lässt sich begreifen, was es bedeutet, in Anpassung an die Natur und in Symbiose mit ihr zu leben – und wie dringend den sich verschärfenden klimatischen Bedingungen begegnet werden muss.

Die Architektur des Operndorfs macht das auf gleichermaßen traditionelle wie zukunftsweisende Art: Sie stammt von Diébédo Francis Kéré, dem Pritzker-Preisträger des Jahres 2022. Kéré wuchs etwa 200 Kilometer von hier auf und war das erste Kind seiner Community, das Lesen und Schreiben lernte – in einer 40 Kilometer entfernten Schule, in der es schnell brüllend heiß wurde. Schlingensief hat einmal gesagt, dass es das Operndorf ohne Kéré nicht gäbe. Der nutzte für die Gebäude traditionelle, ökologisch wie ökonomisch günstige Baumaterialien wie Ziegelsteine aus einer rötlichen Lehm-Erde-Mischung und das in dieser Weltgegend allgegenwärtige Wellblechdach, das vor den heftigen Regengüssen schützt. Es scheint allerdings über der Konstruktion zu schweben und erlaubt eine natürliche Belüftung der Räume, sodass die Deckenventilatoren an vielen Tagen überflüssig sind. Es ist, das lässt sich nicht anders sagen, eine Freude, in und mit dieser Architektur zu leben. Francis Kéré besucht das Operndorf genau wie Akinbode Akinbiyi regelmäßig.

"Das Operndorf kann ein Ort für eine diasporische Erfahrung sein"

Vielleicht hat es mit dem seltsamen Vergehen der Zeit zu tun, dass von den Künstlerinnen und Künstlern nicht erwartet wird, während ihrer Residency etwas zu produzieren. Es reicht vollkommen, wenn sie vor Ort sind, sich selbst, einander und die Burkinabé kennenlernen, sich sammeln. "In meinen Augen", so Leila Bencharnia, "kann das Operndorf ein Ort für die diasporische Erfahrung sein – eine Möglichkeit zu sagen: 'Hör in den kommenden drei Monaten einfach deiner Umwelt zu, statt mit anderen Formen des Seins zu kämpfen.'" Doch gerade die Abwesenheit vom Druck, etwas zu schaffen, scheint bei vielen produktive Kräfte freizusetzen. Auch steht es den Artists-in-Residence vollkommen frei, ob sie etwa mit den Schulkindern, lokalen Künstlerinnen oder Handwerkern arbeiten wollen. Viele tun es.

So stammt etwa eine Struktur im Schatten des Veranstaltungsraums am westlichen Rand des Operndorfs von dem Düsseldorfer Künstler Claus Föttinger. Für seine "Bar 3000" errichtete er auf einer Ebene einen Quader, der als Theke dient, und eine stufige Sitzgelegenheit. Beide versah er mit Hunderten Fliesen aus lokalen Materialien, die er zusammen mit einer Gruppe Schulkinder mit einem traditionellen, an eine Welle erinnernden Symbol verzierte, bevor er sie in einer Keramikwerkstatt in der Gegend brennen ließ. Seine mittlerweile leider durch die starken Niederschläge in der Regenzeit beschädigte "soziale Plastik" wurde 2018 mit einer großen Party in Betrieb genommen.

Die ebenfalls aus Deutschland stammende Autorin und Dramaturgin Jeannette Mohr, die gemeinsam mit dem senegalesischen Filmemacher und Maler Mahamoudou Moustapha Diop Teil jenes Jahrgangs war, veranstaltete mit zehn Kindern der dritten Klassen je eine Stunde am Tag einen Theaterworkshop und drehte anschließend einen Kurzfilm mit ihnen. "Ich habe es als unglaubliches Privileg empfunden, einfach dort zu sein und mitzukriegen, wie anders das Leben an dieser Stelle der Welt ist", sagt Mohr über ihre Zeit im Operndorf. "Mir ist immer im Kopf geblieben, was Schlingensief mal irgendwo gesagt hat: Er würde sich wünschen, dass die Leute dort hinkommen wie unbelichteter Film." Unbelichteter Film, der unter der Sonne Burkina Fasos und unter dem Eindruck der dortigen Erlebnisse neue Bilder dieses Landes hervorbringt.

Die Freundschaft, die sich zwischen den drei Residenzkünstlern in diesem Jahr entwickelte, besteht bis heute. "Der Austausch da oben auf der Terrasse", so Mohr, "hat uns auch – oder gerade – wenn wir uns aneinander gerieben haben, auf allen Seiten neue Erkenntnisse verschafft." Mit einem der Mädchen aus ihrer Theaterklasse steht Mohr nach wie vor in Kontakt.

Wenn die Oper ins Dorf kommt

Das Artist-in-Residence-Programm ist das eine, das lokale Kulturprogramm ein anderes Element, mit dem die "Oper" ins Dorf kommt. An einem Nachmittag Mitte Januar reisen um die 50 Männer und Frauen aller Altersstufen aus der Umgebung an, viele von ihnen Kleinbäuerinnen und Händler. Sie sind gekommen, um gemeinsam eine Kurzgeschichte zum Thema sexuelle Gewalt der burkinischen Autorin und ersten Kulturministerin des Landes, Bernadette Sanou Dao, zu lesen und zu diskutieren. Der Kurzgeschichtenband, aus dem die Geschichte stammt, verbleibt bei den Teilnehmenden – verbunden mit der Bitte, selbst weiterzulesen, sich daraus vorlesen zu lassen oder das Buch innerhalb der Familie weiterzureichen.

Wenige Tage später findet das Training im Rahmen eines mehrmonatigen Tanzworkshops statt. Dabei erarbeitet eine Gruppe von Choreografen des Centre de Développement Chorégraphique La Termitière in Ouagadougou mit Jugendlichen eine Aufführung, in der sich zeitgenössische Elemente und traditionelle Tänze von Ethnien wie den Warba oder Gourmantché vermischen. Viele der teilnehmenden Teenies sind vor der seit Jahren grassierenden islamistischen Gewalt im Norden des Landes geflohen, manche von ihnen haben gesehen, wie Angehörige getötet wurden. "Das Tanzen soll ihnen helfen, ihre traumatischen Erinnerungen besser zu verarbeiten“, sagt Laurentine Bayala, die Leiterin des Kulturprogramms.

Sie erzählt, dass die Menschen, die im Einzugsgebiet des Operndorfs leben, es nicht unbedingt gewöhnt seien, Kunst wie Konzerte oder Filmvorführungen zu konsumieren. "Daher müssen wir Wege finden, sie für unsere Veranstaltungen zu interessieren und zu involvieren." Das hieße konkret, sie aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Weil sich Radiowerbung als nicht wirksam genug erwiesen habe, agierten nun die lokalen Chiefs als Multiplikatoren für die Angebote des Operndorfs. "Alles, was wir tun, richtet sich an die umliegenden Communities und ist von der Frage geleitet, was sie in ihrem Alltag interessieren könnte", so Bayala.

"Ich kann es nicht erwarten, bis das Festspielhaus gebaut ist", sagt sie noch und betont, welche Bedeutung seine Existenz in ihren Augen für das Selbstverständnis der gesamten burkinabischen Bevölkerung hätte. "Wir lernen von klein auf, dass wir nichts haben – gar nichts – und so wachsen wir zu hoffnungslosen Menschen heran. Die Kunst gibt uns einen Ort, an dem wir träumen und eine andere Realität erschaffen können." Das Gute an der Schnecke als Formgeberin des Operndorfs ist übrigens: Es kann immer weiterwachsen, Windung um Windung.