Am 15. März wäre die Ausstellung zu Ende gegangen, die ich unter dem Titel "Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien" für das Museum der bildenden Künste in Leipzig kuratiert habe. Drei Tage vor dem offiziellen Ende wurde das Museum, wie mittlerweile international fast alle Kultureinrichtungen, geschlossen. Wann Museen und Galerien wieder öffnen können, ist ungewiss. Vielleicht schon Anfang Mai, vielleicht im Sommer, vielleicht erst im Herbst. Die Ausstellung hieß übrigens "Link in Bio", weil auch junge Künstler und Künstlerinnen, die im Internet groß geworden sind, raus aus den sozialen Medien und rein ins Museum wollen. Wie alle irgendwie raus aus diesem Instagram und die Menschen anderswo hinziehen wollen. Bisher war das zumindest so, bis zu besagtem Freitag, den 13. März.
Und jetzt wollen alle rein ins Internet und in die sozialen Medien, weil: besser als nichts. Wenn alles geschlossen ist, trifft man sich eben online. Es wird Klavier gespielt, gesungen, getanzt, gelesen, geredet und so weiter, kurz: Alles, was sonst auf Bühnen stattfindet, wird ins Netz verlegt. Das Überangebot an kulturellen Veranstaltungen ist plötzlich so groß wie früher tagtäglich in Berlin. Geht man zum Opening oder zur Lesung? Schafft man drei Openings an einem Abend?
Schöne Bilder von Essen statt Restaurantbesuch?
Statt Einladungen zu Facebook-Events schickt man sich Hinweise auf Livestreams. Jetzt muss man sich also zwischen diversen Livestreams entscheiden und das den ganzen Tag lang. Und jetzt sehen auch noch die Freunde, ob man sich zugeschaltet hat. Wer nur kurz reinschaut, macht sich wie sonst in real life schnell beim Gastgeber bemerkbar, man winkt im Zweifel verlegen in die Runde. Und dann polnischer Abgang. Am nächsten Tag wird sich am Telefon oder im Chat darüber unterhalten, natürlich erst, nachdem man sich über die aktuelle Corona-Lage ausgetauscht hat. "Hast Du gesehen, was …? Hast Du gehört, dass …?" "War’s gut? Muss ich das noch schnell anschauen?" Vor zwei Wochen noch war das undenkbar, denn a) gab es die Masse an Angeboten nicht, und b) hatte man andere Gesprächsthemen.
Das große Thema ist: Wie kann man Kultur nach Hause bringen? Funktioniert das überhaupt? Dazu wurde gerade der Kunstkritiker Jörg Heiser vom Deutschlandfunk in der Sendung "Kompressor" befragt. "Verzweifelt, unausgegoren und sinnlos", lautet die Überschrift zur Brachialkritik. Verständlich sei, dass Museen verzweifelt seien und schnell Online-Angebote auflegen. Grundsätzlich sei begrüßenswert, dass Inhalte online verfügbar seien. "Ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist", sagt Heiser. Sein Vergleich: "Statt ins Restaurant zu gehen, schaue ich mir Bilder von schön gekochtem Essen an."
Was will denn das Publikum?
Das Erlebnis bleibt also aus, das sei frustrierend. Statt Online-Ausstellungen zu besuchen, solle man lieber ein Buch lesen. Eine "Verzweiflungstat" und "unausgegoren" nennt er, was von Museen und Galerien, von Museumsdirektoren und Galeristen aktuell im Netz zu sehen ist. Statt "sinnlosen Quatsch im Livestream rauszusülzen", solle man Kunstkritiker und Kunsthistoriker für Podcasts und Videobeiträge beauftragen. Nur: Livestreams sind der neue Podcast. Zumindest momentan. Kostet nichts, geht schnell. Und: Der Kunstkritiker, der lieber ein Buch liest, geht von der eigenen Rezeptionshaltung aus. Schwierig. Was will denn das Publikum? Welche Wahl hat es bis auf Weiteres?
Ins Restaurant geht man selten, in den Supermarkt ständig. Im Restaurant ist das Angebot beschränkt, im Supermarkt ist die Auswahl maximal groß. Und jetzt sind auch noch die Restaurants geschlossen, bleibt also nur der Supermarkt. Und ja, Tütensuppe schmeckt nicht wie Gericht xy vom Sternekoch, aber es gibt eben nicht nur Tütensuppe im Supermarkt.
Die meisten Museen sind längst online präsent
Max Hollein, der Direktor des Metropolitan Museums in New York, ist kürzlich vom Spiegel auf virtuelle Rundgänge von Museen angesprochen worden. "Planen Sie so etwas auch?", wurde Hollein gefragt. Seine Antwort: "Das Met hatte schon immer ein sehr starkes digitales Angebot. Das bauen wir jetzt in dieser Zeit aus. Da gibt es zum Beispiel 360-Grad-Ansichten ikonischer Säle und verstärktes Engagement mit Besuchern auf Social Media." Diese Frage ist symptomatisch für das, was da gerade in den klassischen Medien vor sich geht. Plötzlich wird sich für die digitalen Angebote von Museen interessiert, weil: besser als nichts.
Für den Großteil der Institutionen ist das aber kein Neuland, ganz im Gegenteil, es wird verstärkt kommuniziert und der Dialog mit dem digitalen Besucher gesucht. Und plötzlich wird groß über den Museumsdirektor und den Galeristen berichtet, der im Livestream selbst zu Wort kommt. Das war vorher maximal einen Nebensatz in der Berichterstattung wert, wenn überhaupt.
Unter dem Titel "Dabeisein und mitmachen" berichtet beispielsweise die "Süddeutsche Zeitung" über das Online-Angebot vom Münchner Haus der Kunst. Und dann wird da irgendwie alles für "herrlich" und "vorbildlich" befunden. Statt vernichtender Pauschalkritik also euphorisches Schulterklopfen. Statt pauschal alles abzulehnen oder zu bejubeln, könnte man genauer hinschauen und sich Kriterien überlegen. Was ist gut, was ist schlecht und warum? In die Sackgasse jedenfalls führt besonders aktuell die Opposition zum Digitalen. Im Netz ist selbstverständlich nicht alles gut, im Museum, wie wir wissen, auch nicht.
"Schön, dass ihr da seid"
Natürlich gibt es auch im Kunstbetrieb die "Corona-Kulturpioniere", wie der YouTuber Rezo die Neuankömmlinge im Internet in seiner Kolumne auf "Zeit Online" nennt. "Herzlich Willkommen!", schreibt er. "Schön, dass ihr hier seid, denn von euch können wir alle noch viel lernen und solche Aktionen tragen in solchen Krisenzeiten auch zu einem Gefühl von Halt und Normalität bei." Man unterhält sich, man hilft einander, mit Aufmerksamkeit und Reichweite. Bühnen werden geschaffen und Spenden gesammelt, es wird über Absagen gesprochen und Kunst anderswo zugänglich gemacht. Das "Zeit Magazin" beispielsweise hat vergangene Woche eine Sonderausgabe des Newsletters "Was für ein Tag!" unter dem Titel "Was für ein Morgen!" gestartet, "um Kulturschaffenden eine Bühne zu bieten – in Zeiten, in denen alle Bühnen geschlossen bleiben müssen."
Und natürlich ist es leicht, den Museumsdirektor zu belächeln, der mit seinem Smartphone durch das leere Museum läuft und die Kunstwerke ehrfürchtig anflüstert, als könnte er sie verschrecken. "Aktuell machen die Corona-Kulturpioniere vor allem das, was sie sonst auch live tun würden, und halten da eine Kamera drauf", schreibt Rezo. Das macht viele Videos und Livestreams so awkward und gleichzeitig so sympathisch und das in einer Zeit, in der wir alle verwundbarer sind denn je.
Nie war Streamen so leicht und doch so schwierig
Vielleicht haben wir Kunst und Kultur selten so wenig und doch so dringend gebraucht wie jetzt. Nie war es so leicht und doch so schwierig, ein Smartphone auf sich selbst gerichtet zu sehen und loslabern zu müssen. Denn nie war die Aufmerksamkeit bei digitalen Angeboten so groß. Und wer auf Instagram live geht, der weiß, dass nicht wie bei einer Führung oder einem Opening 20 oder 100 Leute zuschauen und zuhören, sondern im besten Fall viele Tausende. Online sind die Kritiker unerbittlich, es wird live kommentiert und nachgefragt und alle können es sehen. Bei einem Opening wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt, wann ruft da schon einmal jemand dazwischen "Peinlich!", "Was soll das?", "Langweilig!"?
"Ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist", sagte Jörg Heiser. Wenn man stehen bleibt und nicht schaut, wohin der Weg führt, weiß man auch nicht, ob der Weg der richtige ist. Viele Museen und Galerien sind in den letzten Jahren neue Wege gegangen und wissen, welches der richtige und welches der falsche Weg ist. Jetzt sind vielleicht auch einmal die Kunstkritik und der Kulturjournalismus gefragt und müssen sich überlegen, wie über Kunst und Kultur im digitalen Zeitalter geschrieben und gesprochen werden kann.
Statt in der Schockstarre zu verharren und Forderungen an die Kulturpioniere zu stellen, könnte man sich selbst als Kulturpionier versuchen. Oder mit den Worten von Rainald Goetz gesprochen: "Don’t cry, work."