Alevtina Kakhidze, wo sind Sie gerade?
Ich bin in meinem Studio, 26 Kilometer von Kiew entfernt. Ich kann hier mit Ihnen sprechen, in Kiew wäre es jetzt sehr schwer gewesen. Meine Website funktioniert seit Donnerstag nicht. Ich habe eine Nachricht vom Host erhalten, dass es einen Hackerangriff gab – das ist ein Teil des Krieges, der das normale Leben erschwert.
Was ist Ihre spezifische Position als Künstlerin in diesem Konflikt?
Schauen Sie, natürlich ist das der Moment, die Macht von Künstlern und Künstlerinnen zu überdenken, wie schon während der politischen Krise seit 2014. Wir hatten die Revolution oder genauer gesagt: einen langen Protest, den Euromaidan. Die Leute lebten in Zelten, es ähnelte den Occupy-Camps in New York, nur dass Winter war und der Protest länger als drei Monate dauerte. Als der Präsident im Februar 2014 aus dem Land floh, wurden 3500 Menschen verletzt. Ich gehörte zu den Künstlerinnen, die Menschen in Krankenhäusern besuchten. Und ich zeichnete die Geschichten der Maidan-Teilnehmer. Damals war es für die ukrainische Bevölkerung wichtig, mit dem Narrativ der russischen Propaganda zu brechen, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten Randgestalten aus der Westukraine seien. Jetzt haben wir eine schwierigere Situation – einen Krieg. Manche Künstler reagieren als Kulturarbeitende. Ein Freund von mir zeichnet mit Kindern in der Kiewer U-Bahn, die zum Luftschutzbunker umfunktioniert wurde. Andere sind wie gelähmt und tun nichts oder versuchen, das Land zu verlassen. Einige von Kiews Künstlerinnen und Künstler waren nie in der Ostukraine, und deshalb sind sie vom Ausmaß an Gewalt geschockt – sie brauchen Zeit. Ukrainische Künstler sind so vielfältig wie die Gesellschaft.
Sie kommen selbst aus der Ostukraine?
Ich bin in der Region Donetsk geboren. Ich wollte Künstlerin werden, deshalb habe ich meine kleine Heimatstadt verlassen. Meine ganze Familie war oder ist noch dort, und ich kenne die Situation sehr gut. Wer als russisch gilt, hat sich verändert, bis hin zur Ablehnung dieser Identität. Ich bin mit russischer Kultur aufgewachsen und spreche Russisch. Während der Kriegszeit habe ich mich von allem Russischen getrennt. Das war ein schmerzhafter Prozess.
Ich möchte auf die Maidan-Proteste zurückkommen, weil Sie darüber auch Kunst gemacht haben und das Zeichnen erwähnt haben. Sehen Sie darin eine Möglichkeit, auf aktuelle Ereignisse zu reagieren?
Zeichnen ist für mich ein Schlüssel zur Realität. Als ich die ersten Barrikaden auf dem Maidan sah, habe ich geweint. Mir war klar, dass es irgendwann zu Gewalt kommen wird. Ich fing an, Barrikaden zu zeichnen. Dadurch habe ich verstanden, dass das eine kollektive Sache ist. Ich ging jedes Detail durch. Aber andererseits ist meine Kunst konzeptuell – mich interessiert, wie man das Denken von jemandem über etwas verändert. Mein Heimatgebiet und selbst meine Mutter waren gegen den Protest.
Sie haben diese komplexen Themen in Ihrer Arbeit auf der Manifesta in St. Petersburg 2014 angesprochen.
Ich wurde eingeladen, an der Manifesta 10 teilzunehmen, die zur Zeit der Annexion der Krim stattfand, als der Krieg im Donbass begann. Und es war eine Chance: Ich hatte ein riesiges Budget und viel Zeit. Hier habe ich nicht gezeichnet, sondern einen performativen Dialog geschrieben. Auf der Bühne stellten mir die Leute auf Russisch kontroverse politische Fragen. Wem gehört die Krim? Warum sprichst du so schlecht Ukrainisch? Was ist in Odessa passiert? Wer ist der Täter? 48 Menschen wurden in einem Gebäude in Odessa verbrannt, und es stand im Zusammenhang mit den Protesten – eine komplizierte Geschichte. Die meisten Opfer waren pro-russische Demonstranten, und für meine Freunde und Freundinnen aus Odessa war es trotz ihrer pro-ukrainischen Haltung schrecklich. Manchmal kann man die Wahrheit nicht herausfinden. In meinem Projekt für die Manifesta habe ich versucht, zwanzig schwierige Fragen zu finden, und es war klar, dass die Antworten dich hinterher zum Feind oder zum Freund machen. Ich habe versucht, den Unsinn von objektiver Wahrheit zu zeigen. Später habe ich viele Workshops in der Ostukraine angeboten, wo ich mit diesem Format experimentiert habe. Ich habe zum Beispiel Fragen gestellt: Bist du für die Dekommunisierung oder nicht? Auf dem Maidan wurden Lenin-Statuen gestürzt, es gab Rechtsextreme, die – manchmal schöne – Lenin-Statuen zerstört haben. Die Monumente wandeln ihre Bedeutung, und wir müssen verstehen, dass Metaphern manchmal zerbrechen.
Wie ist Ihre Situation jetzt?
Meine Freunde in Europa versuchen mir zu helfen, indem sie ihre Wohnungen anbieten. Aber das löst das Problem nicht. Sie können mich aufnehmen, aber ich kann nicht mein ganzes Land mitbringen. Ich brauche zwar kein Visum und kann einfach einen Zug von Lviv nehmen, aber für mich ist es auch wichtig, als Künstlerin eine andere Perspektive geben. Ich bin hier, um zu verstehen, was passiert. Sonst kann ich keine Arbeit produzieren. Aber ich kann natürlich nicht verlangen, dass sich alle ukrainischen Künstlerinnen und Künstler so verhalten.
Jetzt setzt der Westen Sanktionen um. Aber der russische Präsident Wladimir Putin verhält sich so, als gäbe es keine weiteren Konsequenzen.
Im Moment lese ich über die alte Idee des ewigen Friedens aus dem 17. Jahrhundert, die Immanuel Kant erdacht hat. Gestern haben wir begonnen, Menschen aus Moskau um Spenden für die ukrainische Armee zu bitten. Sie erwiderten aber: Wir sind doch gegen den Krieg. Sie wollen den Frieden schützen – was ich gut verstehen kann – , aber sie wollen sich auch davor schützen, Krieg zu finanzieren. Bloß, wie kann man die Invasion in die Ukraine stoppen?
Eine Frage der Moral?
In der Philosophie ist Moral immer eine Frage. Aber nur totalitäre Regime glauben an Moral als etwas Unveränderliches. Sie und ich, wir haben gemeinsame Vorstellungen, aber die können sich auch ändern. Sie können wie der Dalai Lama sein, oder Sie können kampfbereit sein. Wahlmöglichkeiten bestehen immer.
Was meinen Sie?
Als ich auf dem Maidan war, waren dort auch Künstlerinnen und Künstler. Einige von ihnen fingen an, mit Steinen zu werfen. Ich nicht. Aber am nächsten Morgen, als Wiktor Janukowytsch das Land verlassen hatte, wusste ich: Wenn alle so gewesen wären wie ich, wäre er nicht geflohen. Zu welcher Zeit kann man sich erlauben, Pazifist zu sein? Die Ukraine befindet sich in der interessanten Situation, in der man diese Konzepte überprüfen kann. Aber jetzt sitze ich in meinem Studio und wir reden über Philosophie, obwohl ich den Beschuss höre. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Was glauben Sie?
Die Frage ist, was Putins Ziel ist. Wahrscheinlich will er die Regierung der Ukraine austauschen, oder er will die politische Agenda ändern, und unser Präsident wird alles unterschreiben, was die russische Regierung verlangt. Das wird Einfluss auf mich und auf alle Menschen in Europa haben.
Sie haben über die acht Jahre zwischen dem Maidan und jetzt gesprochen. Was ist aus der Idee eines Neuanfangs geworden?
Sehen Sie, ich habe Illustrationen für eine Umfrage im besetzten Gebiet gemacht. Es ging darum, wie Menschen sich selbst sehen, mit wem sie gerne zusammen wären, wie ihre Einstellung zur ukrainischen Regierung ist. 600 Personen wurden interviewt. Eine Frage war, welche drei Wünsche sie haben. Es gab aber nur einen: Der Krieg sollte enden. Wenn es an Vorstellungskraft mangelt, gibt es keine Hoffnung. Meine Freunde aus der EU schlagen nur eine Sache vor: Komm zu uns.
Das ist doch verständlich.
Ich bin gegen die Idee, nur eine Lösung zu haben. In der Ukraine, in den besetzten Gebieten, gibt es nur den einen Wunsch, keinen zweiten, keinen dritten.
Aber wenn Frieden ist, ist noch viel mehr möglich.
Die Vorstellungskraft hat auch mit Bildung zu tun. Deshalb arbeite ich mit Kindern. In einer postsowjetischen Gesellschaft fällt das Denken manchmal schwer. Hier geht es um Freiheit, und das hängt mit unserer Situation zusammen. Aber die Ukrainer sind sehr kreativ. Politiker sind oft sind nicht allzu kreativ – das erinnert mich übrigens an Joseph Beuys. Ich habe mich von seinen Übungen für meine Arbeit mit Kindern in diesem Dorf inspirieren lassen.
Beuys hat auch eine Verbindung zur Ukraine.
Er wurde über der Krim abgeschossen und erfand eine Geschichte über die Tataren, die ihn gerettet hatten. Was interessant ist, denn in der Sowjetunion wurden sie verfolgt. Aber er war schlau. Er sagte nicht, die Nazis oder die Sowjets hätten ihn gerettet. Er suchte das Exotische, mit Fett und Filz.
Wie wird die nächste Woche in der Ukraine aussehen?
Wir werden sehen, wie stark die ukrainische Armee ist und wie weit Russland gehen will. Es könnte einen runden Tisch mit Politikern geben, und das wird der Fahrplan für die Zukunft sein, nicht nur für die Ukraine. Uns erreichen viele Heldengeschichten. Wie der Vorfall auf der Insel im Schwarzen Meer, wo sich Ukrainische Soldatinnen und Soldaten weigerten aufzugeben, indem sie sagten: "Fuck you". Das teilen die Leute in den sozialen Medien. Vielleicht kann dieses Durchhaltevermögen helfen, vielleicht auch nicht. Eine Prognose kann ich Ihnen nicht geben. Meine Antwort ist, das wird keine Geschichte über die Ukraine, sondern eine über die ganze Welt.