Im eher unscheinbaren Ausstellungsraum des Londoner Southbank Centre türmen sich Transportkisten und Verpackungsmaterialien bis unter die Decke. Keine Installation, die sich hier breit macht, sondern ein sichtbarer Verweis auf die beeindruckende Menge an Arbeiten, die für die Ausstellung "No Comment" in den letzten Monaten eingetroffen sind. Die neueste Schau von Koestler Arts zeigt über 200 Kunstwerke britischer Gefängnisinsassen, ausgewählt aus mehr als 7500 Einsendungen. Sie eröffnet den Besuchern eine seltene Perspektive auf einen Teil der Gesellschaft, der sonst weitgehend verborgen bleibt.
Jeremy Deller, Turner-Preisträger und diesjähriger Gastkurator, ist bekannt für seine sozialkritischen und partizipatorischen Projekte. Er beschreibt die Ausstellung als "streng genommen nicht kuratiert", sondern als Resultat einer Auswahl, die idealerweise einen spirit vermittelt. Diese bewusste Zurückhaltung, nicht ein Thema zu forcieren, unterstreicht den besonderen Charakter der gezeigten Arbeiten, die nicht allein durch das Prisma der Kunst gelesen werden können. Ihr "Geist" verweist eher auf Ort und Umstände ihrer Produktion.
Gemeinsam mit Co-Kurator John Costi, selbst ehemaliger Gefängnis-Insasse und heute Künstler und Mentor im Koestler-Programm, hat Deller Werke zusammengestellt, die von Malerei, Zeichnung, Fotografie, Keramik und Skulpturen bis zu Gedichten und Musikstücken reichen. Unterstützt werden sie dabei von einem Team aus Abbas Zahedi, Andrea Emelife, Larry Achiampong, Nicholas Cullinan, Jonny Banger und Zakia Sewell. Alle Werke stehen zum Verkauf, wobei 50 Prozent des Erlöses an den Künstler oder die Künstlerin, 25 Prozent an Koestler und 25 Prozent an die Opferhilfe gehen.
Kunst als Rettungsanker
Wenn es dann aber doch ein Thema geben sollte, dann liegt dieses in einer gewissen Dramaturgie des Parcours. Der beginnt mit der Leere und dem Bewusstsein, keine Stimme zu haben und setzt sich im zweiten Raum fort, wo die Kunst als Mittel der Kommunikation und als Sprachrohr entdeckt wird. Hier läuft ein Video, in dem Costi sehr eindringlich von seinem Weg aus dem Gefängnis berichtet, von seiner Selbstfindung als Künstler. Dann geht es zum dritten Teil der Ausstellung, die die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks feiert.
Deller und Koestler Arts, das ist eine langjährige Liaison. Der Künstler ist nicht nur regelmäßiger Juror der Awards, vor Jahren gab er bereits Seminare und Vorlesungen über zeitgenössische Kunst in den Anstalten, die offensichtlich zu populär waren. Man hat sie schlicht wegen des extrem hohen Zuspruchs wieder aus dem Programm genommen. Cancelled by success.
John Costi, der Jeremy Deller 2013 auf der Biennale in Venedig kennenlernte, beschreibt die Kunst in den Gefängnissen als ein "Wurmloch zur zeitgenössischen Kunst". Für ihn war sie während seiner Haftzeit ein Rettungsanker. Ein Basquiat-Buch aus der eher schmalen Gefängnisbibliothek motivierte ihn, weiterzumachen. Außerdem gab es die Unterstützung seiner Mentorin: Mit ihrer Hilfe machte er die ersten Schritte zurück in die Freiheit und eroberte sich nicht nur den Alltag zurück, sondern auch die Welt der Kunst. Orte, die nicht für ihn gemacht schienen, Galerien und Museen, lernte er als selbstverständlich zu betrachten.
Schlüssel zur Resozialisierung
Heute gibt er diese Erfahrung weiter. Er begleitet andere Inhaftierte auf dem Weg der Selbstfindung und zeigt ihnen, wie Kunst nicht nur Ausdruck, sondern auch ein Schlüssel zur Resozialisierung sein kann. Doch Costi erinnert auch daran, wie fragil dieser Prozess ist. Er sieht die psychischen Begleiterscheinungen: "Einige Dinge transportieren mich direkt zurück in meine Zelle", gesteht er mit Blick auf einige Exponate: "Die grüne Bettwäsche oder der spezifische Geruch der Buttermilch-Seife, die hier in der Ausstellung zu Skulpturen verarbeitet wurde."
Neben der Ausstellung ist der jährlich stattfindende Wettbewerb einer der Höhepunkte im Programm der Initiative. Auch Costi nahm regelmäßig an den Koestler Awards teil. Prominente Juroren, darunter Künstler wie Grayson Perry, Sarah Lucas und Autoren wie Hilary Mantel, tragen dazu bei, die Werke der Gefangenen in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Ihre prestigeträchtige Beteiligung verleiht den Künstlern Anerkennung, denn in dem schier unbegrenzten Feld an künstlerischen Kategorien wird jede Einsendung mit konkretem Feedback und Preisen honoriert.
Dass Gefängnisse oft ein blinder Fleck der Gesellschaft sind, betont auch der französische Soziologe Didier Fassin. In seiner kritischen Analyse des Strafsystems hebt er hervor, dass Kunstprogramme wie die von Koestler Arts seltene Ausnahmen sind. Während des Strafvollzugs, der bestehende soziale Ungleichheiten oft zementiert, schaffen solche Projekte Raum für Reflexion und Menschlichkeit.
Ein Netz aus Mauern und Zäunen durchs ganze Land
Ein Element der Ausstellung ist eine Wandkarte des Vereinigten Königreichs. Darauf sind alle 140 Gefängnisse verzeichnet, einschließlich der Abschiebezentren und gesicherten psychiatrischen Einrichtungen. Sofort wird das Ausmaß des Systems deutlich: ein Netz aus Mauern und Zäunen, das sich durch das gesamte Land zieht.
Viele Gefängnisse in Großbritannien sind seit Jahren überbelegt. Die Karte erinnert daran, dass die hier präsentierten Werke nicht isoliert entstehen, sondern Teil einer unsichtbaren Infrastruktur sind, die eine ganze Population betrifft. Die Zahl, die eine Koestler-Mitarbeiterin an einer Wand der Ausstellung wöchentlich aktualisiert, beläuft sich derzeit auf 96.030 Inhaftierte.
Der Zusammenhang zwischen Kunst und Strafvollzug ist kein neues Phänomen, wurde aber lange übersehen. Hans Prinzhorns Buch "Bildnerei der Geisteskranken" (1922) hatte großen Einfluss auf die Kunstwelt, während sein Nachfolgeband "Bildnerei der Gefangenen" (1926) weitgehend unbeachtet blieb. Künstler wie Jean Dubuffet prägten den Begriff Art Brut für die rohe, ungeschliffene Kunst von Menschen am Rande der Gesellschaft, doch die Werke von Gefangenen fanden kaum Anerkennung.
"Die ruhigsten Räume im Gefängnis"
Unter anderem Koestler Arts hat diese Lücke geschlossen. Seit über 60 Jahren bietet die Organisation britischen Gefangenen eine Plattform, ihre Kreativität zu entfalten. Ähnliche Programme gibt es heute in den USA, Kanada und Frankreich, doch Koestler bleibt Vorreiter. Das Programm trägt nachweislich zur Resozialisierung bei. Studien zeigen, dass kreative Arbeit im Strafvollzug die Rückfallquote senken und emotionale Verarbeitung fördern kann.
Die Werke in "No Comment" schweigen über die Verbrechen ihrer Schöpfer. Stattdessen erzählen sie von Isolation, Sehnsucht und der Suche nach Identität. Deller betont: "Die Kunstklassen sind die ruhigsten Räume im Gefängnis." Dort gibt es die Möglichkeit für Reflexion und Kontemplation, die im harten Gefängnisalltag selten ist.
Wer in Venedig 2013 den britischen Pavillon betrat, um Dellers Ausstellung "English Magic" zu besuchen, fand sich eingangs mit einer Wandmalerei konfrontiert: Ein gigantischer Greifvogel hält einen Range Rover in seinen Klauen. Das Bild spielt an auf einen Vorfall an, in den Prinz Harry verwickelt war. Ihm wurde seinerzeit vorgeworfen, zwei Exemplare dieser extrem seltenen Vögel illegalerweise erlegt zu haben. Ein Bild, in dem die Natur Rache nimmt.
"Verschönerung" eines unschönen Systems?
Man stelle sich vor, es wäre nicht zu einer Einstellung der Untersuchung gekommen. Der vermeintliche königliche Wilderer wäre verurteilt worden und säße eine Strafe in einem der 140 britischen Haftanstalten ab. Absurd, ja, und gleichzeitig die scheinbar naive Frage, was wäre, wenn Justitia tatsächlich blind wäre und Rassismus, Klassismus und Privilegien keine Rolle spielten. Oscar Wilde, selbst ein prominentes Beispiel für einen Künstler, dessen Leben durch die Inhaftierung ruiniert wurde, schrieb in einem seiner Briefe: "Das Gefängnis ist der Ort, an dem die Gesellschaft ihre eigene Doppelmoral erkennt."
Trotz des beeindruckenden Erfolgs von Koestler Arts gibt es auch kritische Stimmen zu Praxis und Auswirkungen der Arbeit der Organisation. Eine häufige Frage ist, inwiefern Kunst im Strafvollzug tatsächlich zu einer langfristigen Resozialisierung beiträgt, oder ob sie lediglich als "Alibi-Maßnahme" dient, um das bestehende System der Inhaftierung zu legitimieren. Kritiker argumentieren, dass Kunstprogramme oft als eine Art "Verschönerung" des Strafvollzugs dienen, um die unbestreitbar problematischen und unethischen Aspekte des Systems zu verdecken. Eine Ausstellung wie "No Comment" kann diese strukturellen Probleme im Umgang mit Kunst von Strafgefangenen selbstredend nicht hinreichend beleuchten. Und es wäre auch unfair und absurd, dies von einer solchen Schau zu verlangen.
Was Koestler jedoch seit Jahrzehnten mit Unterstützung von zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen erfolgreich betreibt: den Diskurs über die utopische Kraft der Veränderung durch Kunst in die Gesellschaft zurückzutragen; gespiegelt durch die, die aus der Sichtbarkeit verschwunden sind. So müssen Menschen eben nicht allein mit Blick auf ihre Straftat beurteilt werden. Und Kunst wird als ein möglicher Baustein der Resozialisierung verstanden.