Ina Hartwig, seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 wird der deutsche Kunstbetrieb von Absagen, Boykotten und öffentlichen Eklats erschüttert. Wie ist die Lage in Frankfurt am Main, wo Sie als Kulturdezernentin Häuser wie das Museum für Moderne Kunst (MMK) verantworten?
Wir versuchen in Frankfurt, und das bisher erfolgreich, mit einer klaren Haltung ruhig zu bleiben. Es gelingt uns gut, die ganze Kulturszene vor Ort in einer gewissen Geschlossenheit zu vereinen. Bisher hält die - ohne Boykotte, Skandale oder andere Aufreger, und zwar nicht nur nach außen, sondern nach meiner Wahrnehmung auch nach innen.
Erteilen Sie den Museumsdirektoren konkrete Vorgaben, etwa im Hinblick auf Antisemitismus?
Nein, ich bin keine Freundin von allzu vielen Vorgaben und Einschränkungen, und schon gar nicht von Verboten. Aber ich erwarte von meinen Hausleitungen, dass sie selbst die rote Linie kennen und entsprechend Grenzen setzen. Ich habe hier acht Häuser und gehe davon aus, dass die jeweilige Leitung weiß, was richtig und was falsch ist. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass Antisemitismus in Frankfurter Kultureinrichtungen nicht geduldet wird.
Wie weit darf Kulturpolitik inhaltlich in die Arbeit der Häuser eingreifen?
Wir mischen uns in der Bundesrepublik Deutschland aus guten Gründen, auch nach der Erfahrung der Diktaturen im 20. Jahrhundert, nicht in die Programme der Kultureinrichtungen ein. Es sei denn, es findet antisemitische Propaganda statt. Dann muss ich als Kulturpolitikerin auch bereit sein, zu sagen: Das möchte ich nicht.
Ist das mit der grundgesetzlich verbrieften Freiheit der Kunst vereinbar?
Ich halte die Kunstfreiheit für ein sehr hohes Gut. Es ist eine echte Herausforderung, die Freiheit der Kunst auf der einen Seite zu schützen und auf der anderen Seite rote Linien so zu definieren, dass die Kunstfreiheit weiterhin gesichert ist. Diese Herausforderung erfordert meiner Meinung nach sehr viel Expertise, auch im Umgang mit Kunst.
Darf Kunst also nicht alles?
Eine wehrhafte demokratische Gesellschaft sollte sich die Freiheit der Kunst zutrauen – das heißt, auch die Störungen, Provokationen und Grenzüberschreitungen, die im Rahmen der Kunstfreiheit möglich werden, auszuhalten. Beim Thema Antisemitismus würde ich jedoch eine rote Linie ziehen. Und dazu brauchte es keine Documenta Fifteen, aber die hat das natürlich noch mal sehr deutlich gemacht.
Hat die Kulturpolitik bei der Documenta Fifteen versagt?
Bei der letzten Documenta wurde einerseits eine politische Verantwortungsdiskussion geführt. Und wir haben andererseits, so sehe ich es jedenfalls, teilweise markant schlechte Kunst erleben müssen. Da wäre natürlich das Banner "People's Justice" von Taring Padi im Agitprop-Stil, mit deutlichen antisemitischen Versatzstücken, die um die Welt gingen. Oder "Guernica Gaza" - ein plumpes antisemitisches Propaganda-Machwerk. Das alles ist mit Ansage passiert, es gab ja genügend Warnungen. Also, denke ich, war es offenbar zum Teil gewollt, im Zuge der aktivistischen, antikolonialen Bewegung. Da ist Verantwortung diffundiert, nicht rechtzeitig erkannt worden. Es wurde zu lange keine Entscheidung getroffen; ganz klar ein Fehler, der sich so nicht wiederholen darf.
Wer soll entscheiden, ob Kunst antisemitisch ist?
Wichtig ist, jedes Kunstwerk einzeln zu betrachten. Und: Die Entscheidung, ob ein konkretes Kunstwerk antisemitisch ist, darf nicht allein an die Verwaltung oder an Gremien delegiert werden. Man muss diese Verantwortung am Ende als amtierende Politikerin selbst tragen. Und dafür ist es schon von Vorteil, wenn man sich mit der Kunst und ihrer Geschichte vertraut macht. Denn auch das ist mir wichtig: Kunst hat per se nicht nur eine Botschaft. Sie ist deutbar, im Guten wie im Schlechten.
War die Besetzung der Frankfurter Theaterbühne durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde im Jahr 1985 aus Protest gegen die Uraufführung von Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" ein Vorbote der heutigen Debatte um Kunstfreiheit und ihre Grenzen?
Ich schätze Rainer Werner Fassbinder als Filmregisseur sehr, aber das Stück und die Frankfurter Bühnenbesetzung kenne ich letztlich nur vom Hörensagen. Damals war ich eine junge Studentin in Westberlin, gefühlt sehr weit weg von Frankfurt am Main. Die damalige Auseinandersetzung um die Uraufführung war politisch und ist politisch von der Jüdischen Gemeinde gewonnen worden. Das hatte auf jeden Fall sein Gutes und war enorm wichtig für die Emanzipation und Stärke dieser Gemeinde.
Wie bewerten Sie die damalige Debatte inhaltlich?
Ich weiß nicht, wie ich mich damals entschieden hätte, wäre ich nah dran gewesen am Geschehen. Es gab innerhalb der Jüdischen Gemeinde unterschiedliche Haltungen, Daniel Cohn-Bendit plädierte für die Aufführung, Michel Friedman für das Verbot. Freiheit der Kunst heißt in einer starken, wehrhaften Demokratie immer: Man gesteht der Kunst zu, dass sie deutbar ist. Diese Deutungsoffenheit ist in unserer Demokratie eine Art Arbeitsvoraussetzung für die Kunstfreiheit.
Im Februar 2024 musste eine Hannah Arendt-Leseperformance der Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof abgebrochen werden, nachdem Aktivisten den Auftritt von Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, aggressiv störten. Was tun sie, um ähnliche Vorfälle in Frankfurter Museen zu verhindern?
Nach dem Vorfall im Hamburger Bahnhof, bei dem Mirjam Wenzel von Aktivisten niedergebrüllt wurde, haben wir zügig einen Maßnahmenkatalog und eine Hilfestellung für unsere Kulturinstitutionen erarbeitet: Was ist zu tun, wenn so etwas am eigenen Haus passiert? Grundsätzlich sind Museen nicht nur Häuser, in denen etwas gezeigt wird, sondern sie sind Orte der Auseinandersetzung und der Debatten. Bevor ich etwas verbieten würde, würde ich erst einmal sagen: Wir müssen versuchen, die Diskussion überhaupt zu führen und zu lernen, die Gegenargumente zu schärfen. Wir müssen unsere Position klarmachen, das ist meine Haltung.
Wie blicken Sie auf Versuche, Kolonialgeschichte und Antisemitismus gegeneinander auszuspielen?
Der Post- oder Antikolonialismus hat eine starke Tendenz, die Schoa als ein Kolonialverbrechen unter vielen zu relativieren. Und da bin ich nicht dabei. Diese Relativierung kann ich nicht akzeptieren, die Einzigartigkeit der Schoa steht für mich fest. Natürlich müssen wir beides, Schoa und Kolonialverbrechen, aufarbeiten. Aber der Impact, die Dimension und die Einzigartigkeit der Schoa dürfen nicht infrage gestellt werden. Das meine ich auch, wenn ich sage, dass wir unsere Position im Vorfeld kommunizieren müssen, wenn wir etwa Gäste von außerhalb einladen.
Wie kann der Kulturbetrieb wieder der Logik von Skandal, Boykott und Eklat entkommen?
Das Gros des Kulturlebens steht nicht in Flammen, sondern das sind punktuelle Ereignisse, die eine sehr große Aufmerksamkeit erfahren. Zu Recht, wie ich finde. Aber es gibt schon auch so etwas wie eine schöne Normalität im Kulturbetrieb: Ausstellungen, die gut besucht werden, Theateraufführungen, Konzerte, Begegnungen - wir haben unglaublich viele Angebote. Und das ist auch gut so und stärkt die Kultur in einer Stadt wie Frankfurt.