ÖPNV-Designer Herbert Lindinger

"Das Würmchen-Muster hat die Lust am Bemalen verringert"

Das "Urban Jungle"-Muster der Berliner U-Bahn ist Kult, war aber ursprünglich gar nicht für diesen Zweck gedacht. Hier spricht sein Schöpfer Herbert Lindinger über seine Idee, Vandalismus und vernachlässigte Ästhetik im öffentlichen Raum

Wir kennen die Designer von Stühlen, die wir uns niemals leisten können, aber worauf wir am meisten sitzen, wissen wir oft nicht. Herbert Lindinger ist der Pionier und preisgekrönte Gestalter des Öffentlichen Personennahverkehrs. Und hat zum Beispiel das heute ikonische Sitzbezug-Muster der BVG in Berlin designt.

Herbert Lindinger, über Designer von Sitzmustern gibt es relativ wenig Informationen. Obwohl wir es täglich sehen, findet man kaum theoretische Erörterungen. Warum?

Von Sitzbezugstoffen im privaten Bereich kann man das nicht sagen. Auch Zeitschriften zeigen traditionell großes Interesse an den Dingen des Wohnens: Stühle, Tisch, Bett und Vasen. Die Krux ist unsere schwer auszurottende Dingwelt-Bewertung in eine private und öffentliche. Im Privaten kann es nicht teuer und schön genug sein, vom anderen distanzieren wir uns eher. Dass das Gemeineigentum auch ein Teil unseres Eigentums darstellt, will nicht in die Köpfe.

Sitzmusterdesign im ÖPNV gilt nicht als schick.

Es galt bis vor kurzem und vielfach weiterhin als eher proletarisch, unfein, passte auf der Medienebene nicht ins Feuilleton.

Weil der Journalist früher nicht ÖPNV fuhr, sondern Taxi. Ist es also eine Klassenfrage? 

Eine Wertungsfrage. Nicht von ungefähr der vernichtende Ausdruck "Holzklasse".

Warum haben Sie sich als Designprofessor überhaupt damit abgegeben?

Das begann 1960 mit dem Auftrag zur Gestaltung einer U-Bahn, an der ich zusammen mit meinem damaligen Dozenten Hans Gugelot an der Hochschule für Gestaltung in Ulm beteiligt war. Nicht nur das Äußere, den Fahrerarbeitsplatz, sondern auch den gesamten Fahrgastraum mit seinen Sitzen erneuerten wir. Die schlugen wir damals möglichst zerstörungsfrei in Polyester vor. Kurz darauf – 1965 – gewann ich einen nationalen Wettbewerb für einen Stadtlinienbus. Damit formte sich eine lebenslang anhaltende Hinwendung, zumindest eine Schlagseite zum ÖPNV und analogen öffentlichen Einrichtungen.


Ihre erste U-Bahn gestalteten Sie in Hamburg, richtig?

Ja, Hamburg war zu Zeiten der Mauer der größte und damit tonangebende Verkehrsbetrieb der Bundesrepublik. Anschließend bevorzugte ich auch als Hochschullehrer in Ulm mit meinen Studenten das Thema Verkehr. Zwei der dabei entstandenen Projekte, eine zentrale Buswartehalle, heute ZOB genannt, und eine neue Verkehrsampel erhielten einen ersten Wettbewerbspreis und wurden als Hauptbeitrag der BRD auf der Triennale Mailand 1968 präsentiert. Kurz nach meiner Berufung an die Leibniz Universität Hannover erhielt ich 1972 den Auftrag, auch in Hannover das neue U-Bahnfahrzeug zu entwerfen. Wir wählten ein kräftiges Maigrün. Diese Zusammenarbeit führte erfreulicherweise sukzessive auch dazu, die Busse, Wartehallen, Informationssysteme, Uniformen und das Logo und alle Drucksachen zu gestalten – immer verbunden mit dem Maigrün. Damit entstand im ÖPNV erstmals, was es in der Industrie schon lange gab: ein durchgängiges Corporate Design. Verkehrs- und Gestaltungsspezialisten pilgerten damals nach Hannover, es war ein kleines Mekka des ÖPNV-Designs. Das trug dazu bei, dass wir anschließend die Fahrzeuge von Frankfurt, Stuttgart und Darmstadt gestalten durften. Dann schließlich 1980 in Berlin die S-Bahn.

Also noch vor dem Mauerfall.

Genau. Die S-Bahn, traditionell ein Tochterunternehmen der Bahn, geriet nach der Teilung Berlins in die Verantwortung der ostdeutschen Reichsbahn. Weil in Westberlin unbeliebt, teils boykottiert und runtergekommen, entschloß man sich damals in Bonn zum Aufbau einer eigenen S-Bahn in Westberlin und zwar unter Verantwortung der BVG, weil der Viermächte-Status die Beteiligung der westdeutschen Bundesbahn ausschloß. Aufgrund meines Wirkens im ÖPNV geriet ich in das neue Planungs- und Herstellungsgremium. In unserem Briefing gab es den Hinweis, soweit möglich das "typisch Berlinerische" zu involvieren.

Was ist denn das?                                                                                                                

Eben. Wir empfanden die dreigeteilte Glasfläche in der Front der bisherigen Fahrzeuge als etwas Typisches und Vertrautes. Aber die alte Außenfarbkombination – das Rot und das unsägliche Braunbeige mit seinen schwarzen Streifen dazwischen – fanden wir für eine moderne Metropole zu abgestanden. Deshalb versuchten wir es mit einem Hellblaugrau mit leichter rötlicher Tendenz. Dazu ein ultramarinblaues Fensterband und rote Türkantenstreifen zur schnelleren Erkennbarkeit. Der Kommunikation zuliebe erfanden wir für die Wagengrundfarbe extra einen Namen: Kristallblau. In einer Sendung des RIAS  wurde dann eines der Testfahrzeuge vom Berliner Verkehrssenator und mir vorgestellt, und zwar verbunden mit der Ersteinführung des Telefonumfragesystems TED. Es wurde damals zu einer Abstimmung über die Farbe aufgerufen.

Oh oh, die Berliner sind ja bekanntlich dem Neuen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen.    

Nicht nur die Berliner, generell bekommt man für Neues, in diesem Fall sogar extrem Abweichendes, so gut wie nie die prompte Zustimmung. Insofern war das Ergebnis erstaunlich knapp. Sie werden es nicht glauben, 45 zu 55 ungefähr. Man unterschätzt die Berliner.

Woran lag's?

Die Traditionalisten haben die Stimmung gewendet. Es wurde gar ein Psychologe zitiert, der die Nichteignung – von dem ja von uns erfundenen – "Kristallblau" als wissenschaftlich erwiesen ansah. Das Projekt geriet bei mir daraufhin jedenfalls in den Hintergrund. Und in den Folgejahren habe ich es dann nicht mehr nach Berlin geschafft. So machte uns erst irgendwann ein Mitarbeiter darauf aufmerksam, dass die U-Bahnen in Berlin das Sitzmuster aufwiesen, das dem vor 15 Jahren von uns für die S-Bahn gestalteten zum Verwechseln ähnlich sehe.

Das Muster, das dann irgendwann so beliebt war, dass es sogar auf Merchandise-Artikel wie Badehose und Seidenschal gedruckt wurde, war eigentlich nicht für die U-Bahn gedacht?

Nein. Schuld war wohl die Ballung ungewöhnlicher Ereignisse: Die Mauer war gefallen, viel Zeit vergangen, die Waggonunion, die einstigen Hersteller der neuen S-Bahnen, war inzwischen untergegangen und infolgedessen gab es möglicherweise auch keine komplette Übergabe der Unterlagen an die BVG, etwa den Vertrag, den der S-Bahn-Wagenhersteller mit mir abgeschlossen hatte. Darin war festgelegt, dass alle Details, die wir für die S-Bahn entworfen haben, honorarfrei nur für die künftige Berliner S-Bahn verwendet werden dürfen.

Es gab dann einen jahrelangen Rechtsstreit zwischen Ihnen und der BVG.

Schade. Die offenbar nur bei uns erhalten gebliebenen Unterlagen führten aber glücklicherweise zu einer gütlichen Lösung. Leider hatte man das Muster, dessen Nutzung ich nun endgültig der BVG übertragen habe, vielleicht etwas zu voreilig aus dem Verkehr gezogen. Zuvor hatte sich sogar ein internationales Modelabel dafür interessiert.

Über die Abschaffung waren die Berliner nicht glücklich, aber es gab ja keine TED-Umfrage mehr. Bekannt wurde es als "Urban Jungle"-Muster. Oder Würmchen-Muster. Wurde es von Ihnen so genannt?

Das erfanden wohl die für ihre Spitznamen berühmten Berliner. Die BVG hatte, offenbar in Unkenntnis der erwähnten vertraglichen Situation, die so erfolgreich funktionierende Muster nicht nur für die Sitze ihrer Fahrzeuge, sondern sogar als Grundthema ihres Gesamtauftritts – einschließlich Marketing –, gewählt. Ein Hype entstand. Ein Auftritt, der bei einem internationalen Wettbewerb für Corporate Identity sogar die Goldmedaille erhielt. Das Muster, von manchen als zu aggressiv empfunden, wurde als ikonisch gefeiert

Das ist doch toll!

Eine solche Identifikation gelingt selten. "Die Zeit" konstatierte in einer amüsanten Betrachtung über die "wahren Wahrzeichen" der Metropolen für Mailand die Panettone, für New York den "Anthora"-Pappbecher und für Berlin das "Urban Jungle"-Muster.

Was macht ein Muster für den öffentlichen Personennahverkehr eigentlich aus?

In jedem Falle wesentlich mehr als Sitzbezüge für die eigenen vier Wände, wo es vermutlich zu 50 Prozent um Ästhetik geht. Bei Bezügen, die täglich von zehntausenden Fahrgästen benutzt werden, reden wir von maximaler Robustheit, niedrigen Kosten, schwerer Entflammbarkeit, möglichst schneller, leichter und gesundheitlich unbedenklicher Reinigung, von schnellem Austausch und natürlich von einer für möglichst viele akzeptierbaren Ästhetik. Da wird die Luft für den Designer dünner. Hinzu kommt auch noch, dass man keinesfalls von ähnlich pfleglichen Nutzungsverhalten in den verschiedenen Städten ausgehen kann, nicht mal in den verschiedenen Stadtteilen. Deswegen wurden sogar schon Eisennetze unter dem Sitzstoff erprobt, um Schnitzern das Handwerk zu vermiesen.

Aber warum sind die Muster oft so wimmelig?

Man sieht absichtlich nur Figuren, Dinge – manche meinen Würmchen – vor sich und keinen Hintergrund. Alle Elemente haben einen gleich starken figuralen Charakter. Das ist ein Gestaltungsverfahren, das in der Kunst und speziell der Textilkunst schon früh entdeckt wurde und immer wieder auftaucht. In der Wahrnehmungspsychologie "Figur-Grund-Beziehung" genannt. Das Gegenteil unserer alltäglichen Wahrnehmung, bei der das Auge die Dinge bevorzugt und den Hintergrund unbeachtet lässt. Wenn da etwas in annähernd gleicher Größe dazu kommt, wird es schlecht wahrnehmbar, und das ist ärgerlich für einen Bemaler. Das half, um sich der Farbfilzer zu erwehren, die um 1985 plötzlich so billig waren und zum Muss für jeden Schüler gehörten. Das "Würmchen-Muster" war offenbar der ideale Entwurf, um die Lust am Bemalen zu verringern.

Aber dann wurde begonnen, in die Scheiben zu kratzen. Kunst findet ihren Weg, könnte man sagen. Deswegen gab es in Berlin dann so schräge Brandenburger Tor-Aufkleber auf den Scheiben.

Und man fühlt sich wie hinter Gittern. Ein Defensiv-Design, das wir wohl so lange brauchen, bis es uns gelingt, allen Leuten bewusst zu machen, dass auch das öffentliche Eigentum ihr Eigentum ist. Wer käme schon auf die Idee, zuhause aus lauter aufgestauter Wut das Interieur kaputtzuschlagen? Ein beschädigter Sitz bedeutet letztendlich den ganzen teuren Wagen aus dem Verkehr ziehen zu müssen.

Sie sind also eher kein Fan von Graffiti und Street Art?

Nur, weil da unter Hunderttausenden mal ein genialer Banksy ist, würde ich den Rest nicht gleich durchweg zu Künstlern erheben. In meiner Stadt wurden im Dezember 2024 über Nacht 350 U-Bahnwagen, fast die ganze Flotte, durch Besprayen verunstaltet. Das ist nicht nur ein Millionenschaden, es bedeutet auch eine unzumutbare gesundheitliche Belastung für die Mitarbeiter durch die für die Reinigung benutzten Chemikalien. Nach Fußballspielen werden nach wie vor Interieurs von Waggons zerstört, Fenster herausgetreten.  Mit rationaler Argumentation kommt man da nicht weiter, eher mit emotionaler. Ich denke, es würde schon peu à peu zur Bewusstseinsänderung in der Gesellschaft beitragen, wenn wir, und besonders die Medien, bei Vandalismus bewusst nicht mehr von einer Schädigung des Staates, der Gemeinde oder der Versicherungen sprechen. Wir sollten konsequent von dem Schaden reden, der den arbeitenden und damit steuerzahlenden Eltern, Nachbarn, Freunden, Kumpels zugefügt wird. Reden von dem schönen Geld, das für Besseres ausgegeben werden könnte. Vielleicht auch für Sprayer und Co. Dafür Vorschläge bitte!