Andrea Pichl, die DDR ist kurz gesagt Ihr künstlerisches Thema. Es gibt verschiedene Werkgruppen, die sich mit Aspekten der Architektur, des Designs und somit des Lebens an sich beschäftigen. Ihre aktuelle Ausstellung "Wertewirtschaft" im Hamburger Bahnhof, kuratiert von Sven Beckstette, nimmt sich ein spezielles Wirtschaftskapitel des Arbeiter- und Bauernstaats vor.
"Wertewirtschaft" bezieht sich auf einen Titel einer Arbeit, beziehungsweise Ausstellung von Joseph Beuys. Bei ihm heißt sie "Wirtschaftswerte". Im Hamburger Bahnhof werden aktuell Künstlerinnen eingeladen, die sich im weitesten Sinne mit dem Werk von Beuys auseinandersetzen oder mit ihm in einen Dialog treten. Genau das habe ich in meiner Konzeption getan, indem ich seinen Ausstellungstitel umgedreht habe, aber auch das ökonomische Prinzip der Wirtschaftswerte in "Wertewirtschaft". Das sind ja komplexere Vorgänge, sowohl inhaltlich als auch im zeitlichen Verlauf.
Von Beuys wird eine Serie gezeigt, Produkte aus dem Osten, zum Beispiel eine Seifenverpackung, die er im Westen ausgestellt hat. Er hat damit auch den Geruch des Ostens, der DDR, mit ausgestellt. Davon gibt es verschiedene Beispiele.
Er meinte wohl, den Geruch des Ostens ausstellen zu können. Das ist aber nicht Seife, sondern der DDR-Riechstein. In seiner Ausstellung hat er sich Waren des täglichen Bedarfs aus der DDR besorgt, weil er wahrscheinlich das minimale Verpackungsdesign so geil fand. Also Linsen, Bohnen, Erbsen, Salz, Zucker. Die hat er in Düsseldorf und in Gent ausgestellt. Diese Arbeit ist aber erst zu sehen, wenn man meine Installation durchlaufen hat, wie nebenbei, ganz am Ende.
Beuys hat also mit DDR-Produkten eine Entsprechung zu Andy Warhols Brillo-Boxen und der Campbell-Suppendosen gemacht?
Genau. Ich gehöre nicht zu den Beuys–Spezialisten. Aber ich dachte sofort, als ich auf den Titel "Wirtschaftswerte" stieß: Okay, habe ich auch. Meine Ausstellung beginnt mit einer Straßenlaterne mit dem Titel "VEB Leuchtenbau". Die Konstruktion ist ein Nachbau, aber den Kopf der Laterne habe ich, so wie viele Dinge in der Ausstellung, gebraucht bei Ebay-Kleinanzeigen erworben. Im Beuys-Part wird von ihm die Straßenbahnhaltestelle ausgestellt und ich dachte: Beuys needs light. Jetzt hat er eine Laterne, die auf die Haltestelle runterschaut.
Was macht die mit ihm?
Das Grundkonzept meiner Ausstellung ist das System Genex. Das war ein Geschenkdienst, der der Kommerziellen Koordinierung der DDR, kurz KoKo, unterstellt war, also dem Wirtschaftsfunktionär Alexander Schalck-Golodkowski. Die KoKo betätigte sich vor allem als Importeur von Embargogütern und war eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit verzahnt. Die KoKo verwaltete unter anderem Handelsgeschäfte, Embargo brechende Technologieimporte, Waffenexporte und beispielsweise auch den Import von Sondermüll aus der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Kirchengeschäfte und Häftlingsfreikäufe, sowie den Export von Kunst- und Kulturgegenständen, also den Kunsthandel. Die DDR wollte und musste, mit welchen Mitteln auch immer, so viele Devisen wie möglich generieren. Und eben dafür wurde auch das System Genex installiert. So wurden auch Gartendatschen veräußert. Vier dieser Typen sind in meiner Ausstellung eins zu eins rekonstruiert. Diese Bungalows wurden in der DDR entworfen, produziert und in den Westen für Devisen verkauft, je nach Größe für 1400, 5000 oder für 8000 DM. So konnten Menschen mit Westgeld diese erwerben und sie dann Freunden oder Verwandten im Osten schenken.
Es gab also einen Katalog, in dem sich BRD-Bürgerinnen Produkte aussuchen konnten, die sie Leuten in der DDR geschenkt haben?
Ja, genau.
Sie stellen also die Hybris des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates aus, der auf West-Währung angewiesen ist, um das System überhaupt am Laufen zu halten.
Die ganze DDR war so gestrickt. Schalck-Golodkowskis einzige Vorgesetzte waren das Politbüromitglied Günter Mittag und Erich Honecker. So bekam er öfter mal Probleme mit dem Außenhandel, weil das in den Hierarchien mit den jeweiligen Verantwortlichkeiten kollidierte. Auch die Stoffe, die ich zu einem, den gesamten Raum ausspannenden Vorhang zusammenmontiert habe, wurden in der DDR produziert und teilweise für den West-Export bestimmt. Diese Arbeit trägt den Titel "Lasst Blumen sprechen".
Mit dieser Ausstellung sind Sie, ich benutze Ihr Wort, die erste DDR-Künstlerin, die im Hamburger Bahnhof ausstellt.
Betonung auf Künstlerin. Ja, das bin ich in der Tat. Und das 35 Jahre nach dem Mauerfall! Ich freue mich natürlich sehr darüber. Meine Ausstellung hat viele biografische Bezüge. Ich war 25 Jahre alt, als die Mauer fiel. Damit gehöre ich einer Generation an, die noch in der DDR erwachsen wurde und selbstverantwortlich Entscheidungen für das eigene Leben in einem autokratischen und menschenverachtenden System treffen musste. Die aber auch wertvolle, ein ganzes Leben prägende Nischen in der Subkultur gefunden hat, für ein Agieren fern einer Staatsdoktrin. Ich hoffe sehr, dass dies mit meiner Ausstellung deutlich wird. Dass ich mich entschieden gegen jegliche Verharmlosungen und Verklärungen der DDR und ihrer Geschichte wende. Das führt zwangsläufig zu gefährlichen Vereinfachungen, die manchmal einem Geschichtsrevisionismus nahekommen.
Wo sehen Sie das?
Es tauchen ja hin und wieder Fragen auf, was mit dem Mauerfall verloren gegangen sei. Ich weiß sehr genau um die sehr verbreiteten pauschalen Abwertungen von DDR-Biografien, um die ungleichen Verteilungen in Vermögensfragen oder in Führungspositionen, dies auch sehr deutlich im kulturellen Bereich. Dennoch zweifele ich die Relevanz dieser demagogischen Fragestellung 35 Jahre nach dem Mauerfall stark an, gerade heute, in der aktuellen politischen Situation, geprägt von wachsender populistischer, ostdeutscher Identitätspolitik. In erster Linie ist ein doktrinärer Staat, eine Diktatur mit einem perfiden und flächendeckenden Überwachungssystem der Zivilgesellschaft verloren gegangen, die die Zersetzung ihrer vermeintlichen Gegner anstrebte. Ich habe das selbst erfahren müssen.
Sie haben vor wenigen Jahren im Berliner Kunstraum Kreuzberg / Bethanien eine Ausstellung mit Künstlerinnen aus der DDR kuratiert. Das waren wohl 50 an der Zahl. Wie war das Geschlechterverhältnis an den Akademien in Ostdeutschland?
2022 habe ich die Ausstellung "Worin unsere Stärke besteht - 50 Künstlerinnen aus der DDR" kuratiert. Die würde ich jetzt nicht mehr so nennen, aber ich habe sie so betitelt, um die Herkunft klar und vielleicht auch etwas plump zu benennen. Ich habe sehr viel recherchiert. Es wurden 50 lebende Künstlerinnen aus drei Generationen. Die Ausstellung widmete sich jedoch nicht einem Narrativ der DDR oder einer Historisierung von Kunst aus dieser, sondern den Biografien und der Frage, wie thematische Zugänge durch sie geprägt sind. Vereinzelt waren Werke von Künstlerinnen vertreten, die bereits in der DDR entstanden sind. Ich habe die Künstlerinnen aber nicht eingeladen, um irgendwelche "Alleinstellungsmerkmale Ost" herauszuarbeiten, sondern um deren Qualität im zeitgenössischen Kontext zu zeigen. Ich habe Wert darauf gelegt, dass weder eine Kategorisierung oder gar Reduzierung auf vermeintlich erkennbare Ästhetiken oder Themen möglich war. Dennoch spielt es grundsätzlich eine Rolle, woher man kommt. Die Ausstellung ging unbedingt davon aus. Es klingt vielleicht etwas paradox, aber Inhalte und strukturelle Zugänge sind generell von biografischen Verläufen geprägt.
Woran liegt der empörende Umstand, dass gerade die Künstlerinnen übersehen und übergangen wurden und in westlichen Ausstellungssituationen unterrepräsentiert sind?
Das ist ein komplexes Problem, welches eine genauere Betrachtung braucht. Dass ich nach 35 Jahren die erste Künstlerin mit DDR-Hintergrund im Hamburger Bahnhof bin, ist genau genommen auch ein Skandal. So trifft es sehr viele Künstlerinnen aus dem Osten. Jetzt weicht das langsam etwas auf. Der Hamburger Bahnhof hat inzwischen mehrere Arbeiten von Künstlern und Künstlerinnen aus der DDR in seine Sammlung aufgenommen. Es gibt also eine gewachsene Aufmerksamkeit. Die Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg war sehr erfolgreich, was auch in den Medien gespiegelt wurde. Außerdem konnten wir einen umfangreichen Katalog produzieren. Für meine Recherchen habe ich mich vor allem strukturellen Fakten gewidmet.
Wie?
Dafür war mir zunächst Steffen Mau mit seinem Buch "Lütten Klein" Vorbild. Ich habe vor allem gezählt. Bis 2022 gab es an 23 bundesdeutschen Hochschulen nur eine Rektorin mit DDR-Hintergrund, Angelika Richter in Weißensee. Inzwischen gibt es mit Agnes Wegener in Leipzig zwei. Wie viele DDR-Künstlerinnen haben eine Professur? Damals waren es neun. Jetzt kenne ich die aktuellen Zahlen nicht. Leiterinnen von Kunsthallen oder Museen? Vor drei Jahren waren es drei Direktorinnen. Immer bundesweit. Künstlerinnen aus dem Osten werden nach wie vor sehr selten gezeigt oder es sind immer die gleichen. Jetzt verändert sich das langsam.
Aber das gilt natürlich auch für den Westen. Auch dort waren Künstlerinnen lange unterrepräsentiert. Wenn man überlegt, dass über 50 Prozent der Studierenden weiblich sind und zehn Jahre nach Abschluss etwa 80 Prozent männlich, dann ist das ein globales Problem oder zumindest ein bundesdeutsches und keins, das auf die DDR beschränkt bleibt.
Absolut. Es ist ein Problem für alle Künstlerinnen.
Und für Künstlerinnen aus dem Osten gibt es diese Doppelung im Übersehen werden.
Das ist so.
Sie haben sich in Ihrem Werk stark mit der DDR-Geschichte auseinandergesetzt, zum Beispiel in Form der Architektur. Da gibt es Zeichnungen von diesen Bautypen, die tatsächlich noch in Berlin und anderswo zu finden sind, Q3A et cetera. Zeichnungsserien von Windfängen, die als Vorbau an den Eingängen dieser Gebäude sind. Was bedeutet Architektur für Sie und Ihr Werk?
Das ist vielfach biografisch. Ich bin selber in einer Platte groß geworden. Aber es wäre jetzt zu trivial, das darauf zurückzuführen. Ich bin einfach damit beschäftigt. Wenn ich Stipendien in New York, in London oder Dublin hatte, habe ich mir in Architektur-Archiven auch jeweils Grundrisse und Pläne von Gebäuden des sozialen Wohnungsbaus besorgt. Oder in Paris, wo ich hinter der Peripherie unterwegs war und viele Ähnlichkeiten zu Plattenbauten der DDR gefunden habe.
Das waren ja auch sozialistische Regierungen in Frankreich.
Genau. Und so habe ich dann weiter geforscht und habe inzwischen ein riesiges Fotografie-Archiv von Detailaufnahmen unterschiedlichster Gebäude. Einige davon sind zurzeit auch in einem der Bungalows der Ausstellung im Hamburger Bahnhof zu sehen, als großformatige Videoprojektionen mit dem Titel "Zeitgeist".
Dann geht es in der Serie mit Zeichnungen, die in einem der ausgestellten Bungalows zu sehen sind, tatsächlich mehr um die Architektur an sich als um die DDR?
Sowohl als auch. Das sind ja unterschiedliche Arbeiten. Ich war beispielsweise vor zehn Jahren anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von Halle-Neustadt vom Direktor Thomas Bauer-Friedrich ans Kunstmuseum Moritzburg für eine Solo-Schau eingeladen. Ich habe internationale Grundrisse des sozialen Wohnungsbaus aus New York und Dublin mit DDR Grundrissen wie P 70, WBS 70 oder P2 kombiniert. Diese Grundrisse sind sich oft in ihren Abmessungen sehr ähnlich, was wirklich sehr interessant ist. Ansonsten ließen sich diese gar nicht in der Weise zusammenfügen, wie ich das tat.
In Rostock haben Sie einen DDR-Kiosk ausgestellt. Rostock ist auch deshalb interessant, weil dort der einzige Museumsneubau in der DDR-Geschichte realisiert wurde.
Die Kunsthalle Rostock ist der erste und einzige Museumsneubau der DDR. Meine Arbeit "Kiosk – Fragmente einer Zeit" steht dort permanent. Ich habe sie speziell für den Ort geschaffen, mit Fundament und Licht. Uwe Neumann, der Direktor, hatte mich 2020 kurz vor der Sanierung der Kunsthalle gefragt, ob ich Lust hätte, eine Arbeit für den Außenbereich zu entwickeln. Das Projekt wurde von der Bundeskulturstiftung gefördert und konnte während und vor allem nach der Sanierung realisiert werden. Im Zuge dieser Sanierung sollten zum Beispiel alle originalen Fenstergitter, Innenraum- und Depotgitter und spezielle Sicherungstüren entsorgt werden, die ich dann benutzt habe, um einen Kiosk nach Vorbild eines Zeitungskiosks, dem Postzeitungsvertrieb aus der DDR, kurz PZV, zu konstruieren. Dieser ist inzwischen komplett aus dem Stadtbild verschwunden. Meiner nun ist goldfarben pulverbeschichtet und weithin vor der Kunsthalle sichtbar.
Ich habe für diese Reihe inzwischen mit einigen Künstlerinnen gesprochen, die als junge Erwachsene in der DDR angefangen haben, Kunst zu machen, Künstlerin zu werden. Was mir jetzt so langsam aufgeht, ist, dass Sie sich alle dieses Künstlertum ertrotzen mussten, abtrotzen von einem Staat, der das zum Teil verhindern wollte. Das ist was anderes, als sich in einem schwierigen Markt zu etablieren und gegen ein sicheres Angestelltenverhältnis zu entscheiden. Sie haben da ein wunderbares Zeugnis in Ihrem Katalog. Sie waren in einem Näherinnen-Kombinat beschäftigt, mussten da Klamotten nähen. In der Beurteilung stand: "Genossin Pichl ist unsolidarisch."
"Genossin" war ich natürlich auf keinen Fall! Das steht da auch nicht so, sondern "Kolln. Pichl", meint Kollegin Pichl. Sonst wäre ich staatskonform und in der SED gewesen. Das war ich eben nicht, sonst hätte ich nach vom Staat vorgesehenem Lebensprogramm studiert und hätte nicht diesen unterirdischen Job machen müssen.
Dann erzählen Sie bitte, wie es wirklich war. Und die Frage ist: Sie mussten sich dieses Künstlerinnentum gegen alle Widerstände ertrotzen?
Ja, man musste sich das natürlich ertrotzen. Ich durfte zu DDR-Zeiten nicht studieren. Und nach dem Mauerfall kam dann raus, dass es einige gravierende Komplikationen mit der Stasi gab. Die kann ich jetzt nicht weiter ausführen, es wäre zu langwierig und kompliziert. Erst mit dem Mauerfall durfte ich studieren. Ich habe wie viele meiner Freunde und Freundinnen Wohnungen besetzt und von irgendwelchen kleinen, wenig zeitaufwendigen Jobs gelebt, zum Beispiel auch in der Staatsbibliothek Unter den Linden oder als Kinderfrau.
Deswegen waren Sie suspekt?
Mir wurde während meiner Bewerbungsgespräche regelmäßig erklärt, ich sei zu schlecht. Ich würde es körperlich nicht schaffen. Dann stellte sich aber nach dem Mauerfall heraus, dass der Bildhauerei-Chef in Weißensee gleichzeitig der Stasi-Chef in Weißensee war. Das wusste ich natürlich nicht. Weil es damals nur wenige Studienplätze für Kunst gab, habe ich es über Mode versucht. Und dazu brauchte man einen Kleidungsfacharbeiter. Nachdem ich mein Pädagogikstudium als Russisch-Englischlehrerin gleich nach zwei Monaten geschmissen hatte, habe ich schließlich nach meinem Hilfsjob im Magazin der Staatsbibliothek und einigen Disziplinarverfahren diese Ausbildung gemacht. Da habe dann im Drei-Schicht-System eine 100-prozentige Normerfüllung im Hosenrumpfbügeln erzielt.