Mid-Century-Kollektion von Ikea

Retromöbel am Puls der Zeit

Vor 80 Jahren wurde der schwedische Möbelgigant Ikea gegründet, der bis heute unser Verständnis von Wohnen prägt. Die Firma feiert ihr Jubiläum mit einer Retro-Kollektion, die viel über die Sehnsüchte der Gegenwart aussagt 

Alles begann vor gut 80 Jahren mit einem 17-jährigen Schweden, der beschloss, ein Unternehmen zu gründen. Die Anfangsbuchstaben seines Namens, kombiniert mit denen des elterlichen Bauernhofes und des Dorfes, in dem er wohnte, ergaben zusammen das Wörtchen "Ikea". Der Firmenname war geboren. In den 40er-Jahren begann das Einrichtungshaus, die Wohnzimmer und auch die Herzen vieler Menschen zu erobern. Die Demokratisierung des Designs war eingeleitet. Innovative Form in akzeptabler Qualität und zu einem geringen Preis – das ist bis heute der Deal. 

2023 feierte Ikea sein Jubiläum mit einer Retro-Kollektion im Stil der 1960er-Jahre. Die zweite Auflage der "Nytillverkad"-Serie (auf Deutsch etwa "neu gemacht") erschien kurz vor Jahresende am 27. Dezember. Diese Kreationen zeigen nicht nur, wie sehr der Konzern seit seiner Entstehung am Puls der Zeit ist. Die knallbunten Nostalgie-Möbel sagen auch einiges über unsere Gesellschaft und das abgelaufende Jahr 2023 aus. 

Die Zeitgenossen der Nachkriegsjahre, denen die Nierentischchen ihrer Eltern bis heute in den Alpträumen herumspuken, mögen darüber den Kopf schütteln. Aber "Mid-Century" ist total in. Kaum eine Studentenbude in Berlin, Köln oder Leipzig kommt heute ohne ein Sideboard aus den 1960er- Jahren und eine Pilzlampe aus den 1970ern aus. Die Retro-Stücke sind Kult geworden und ironischerweise auf Ebay und Co. nur noch zu horrenden Preisen zu ergattern. 

Auf eine gute Zeit hoffen

Viele wird es also freuen, dass die beliebten Objekte jetzt zum Ikea-Preis erhältlich sind. Auch, wenn es sich dann nicht um Originale handelt. Aber warum in puncto Design überhaupt den Blick zurück richten? Und ausgerechnet in die Nachkriegszeit?

Es gibt einige Parallelen zwischen den Jahren nach 1945 und heute. Denn zum Jahreswechsel 2023/24 plagen vor allem zwei Kriege die Deutschen, die ihnen sowohl geografisch als auch emotional besonders nahe rücken: Die in der Ukraine und in Israel und Gaza. Das Risiko neuer militärischer Eskalationen ist heute groß, in den 1950er- und 1960er-Jahren war es vor allem die Erleichterung, den Krieg überstanden zu haben. Doch was die Jetztzeit mit damals vereint, ist die Verdrängung. Das gedankliche Beiseiteschieben des Grausamen, das Bedürfnis, die Krisen zu überschreiben, um selbst nicht daran zu verzweifeln. Stattdessen: Das Hoffen auf eine gute Zukunft.

"Retro" fängt diese Gefühle auf. Es ist ein Design, das Zweifel wegwischt und das eigene Heim zu einer stilsicheren, unschuldigen Spielwiese macht. In den 1950er-Jahren entwarfen deutsche Künstlerinnen und Künstler fast kindlich naive Tapetenmuster mit seichten Kringeln und Farbtupfern. Betrachtet man etwa die Kreationen der Künstlergruppe Junger Westen aus Recklinghausen, ist es fast lachhaft, wie die Designs alles Leid des Krieges vergessen zu haben scheinen. Diese Tapeten und auch die Möbelstücke der Zeit erzählen, wie groß das Bedürfnis der Menschen nach Leichtigkeit war. 

Möbelstücke werden die Welt nicht retten

Dass heute der Mainstream-Möbelkonzern Ikea eine Kollektion im Mid-Century-Stil herausbringt und damit einem Trend nachgeht, der im Krisenjahr 2023 boomte, ist nicht erstaunlich. Indem das Einrichtungshaus die kleinen Hocker und Servierwagen aus den 1960er-Jahren wieder zum Leben erweckt, werden auch die Gefühle von damals aufgerufen. Gefühle, die Ausdruck in Wohn- und Schlafzimmern gefunden haben, den innersten Rückzugsorten der Menschen, und die wir heute nachempfinden können. 

Ikea ermöglicht mit seiner neuen Kollektion, sich auch für wenig Geld eine Spielwiese der Unbekümmertheit einzurichten. Einen Ort weit weg von den Grausamkeiten der Welt, in dem die knallorangenen Zylinderkerzen über leidvolle Gedanken und Ängste hinwegleuchten. 

Denn der Design-Trend zeigt: Unsere Gesellschaft scheint es momentan zu brauchen, sich in der Leichtigkeit von Farben und Formen zu verlieren. Diese Möglichkeit bieten die Einrichtungselemente der Nachkriegszeit. Allerdings sollte dabei klar sein, dass vollkommene Verdrängung aller Krisen kein Mittel der Zukunftsgestaltung ist – und Möbelstücke die Welt nicht retten werden. 

Gefühle und Sehnsüchte einer Gesellschaft

Um es mit einer Ikea-Metapher zu sagen: So verlockend jedes blau-gelbe Einrichtungshaus mit seinen Wohnträumen aus schwedischen Sofas und Malm-Kommoden auch wirken mag: Es spuckt einen am Ende auch nur wieder aus, auf den grauen Parkplatz der Realität. Dann liegt es an einem selbst, den Traum für sich zu verwirklichen. Ab und zu aber in eine unbeschwertere Welt abzutauchen und sich in den fröhlichen Farben seiner Macaron-Hängelampe zu verlieren, kann bestimmt nicht schaden. 

Es ist also tatsächlich die Ikea-Retro-Kollektion, die einen Anlass bietet, zurückzublicken und die Gefühle und Sehnsüchte einer Gesellschaft zu reflektieren. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Klassiker der 1960er Jahre, wie das verhasste Nierentischchen mit seiner sanften Schwingung, einmal designerische Hoffnungsstifter werden könnten?