Zum Tod des Künstlers Hreinn Friðfinnsson

Das Universum wird Wohnzimmer

Er baute ein Haus "linksherum" und verband Natur, Architektur und Vorstellungskraft: Der Isländer Hreinn Friðfinnsson war ein "Artist's Artist" und ein stiller Star der Kunstszene. Nun ist er mit 81 Jahren gestorben

1974, im Todesjahr des isländischen Schriftstellers Thórbergur Thórdarson, baute sein Landsmann Hreinn Friðfinnsson ein Haus. Eine Romanfigur Thórdarsons hatte den Konzeptkunst-Pionier inspiriert, ein betagter Exzentriker namens Gudmundsson, der sich seinen Alterswohnsitz "linksherum" bauen lässt, wie einen Pullover im Schonwaschgang, damit sich auch andere, möglichst viele Menschen an seinen außen angebrachten Tapeten erfreuen können.

Friðfinnsson machte es genauso, zeigte aber mehr Weitblick als der schrullige Gudmundsson. Außerhalb von Reykjavík auf einem Lavafeld – wo nichts Menschengemachtes in den Blick geraten konnte – errichtete der damals 30-jährige Künstler sein kleines, auf die Grundform Quader-mit-Dach reduziertes "First House", bei dem die Tapete und die Vorhänge außen angebracht waren. Simple Maßnahme, Wahnsinnsidee: Das Außen schrumpft auf wenige Quadratmeter, das Innere ist nach außen gestülpt, um sich in die Unendlichkeit auszudehnen. Das Universum wird Wohnzimmer. 

Sein Leben lang hat sich Friðfinnsson mit seinem "House Project" beschäftigt. Vier unterschiedliche Skulpturen sind über die Jahrzehnte entstanden, zuletzt das "Fourth House" im Rahmen der Skulptur Projekte Münster 2017, das heute im Kunstpark Jäckering in Hamm steht: ein aus spiegelndem Edelstahl gefertigtes Skelett eines Hauses.

"Ich wäre gern die Sprache, die in Hreins Werken gesprochen wird"

Friðfinnsson zählt zu den "Artist’s Artists" – den stillen Stars des Kunstbetriebs. Berühmtere Namen wie Philippe Parreno und Ólafur Elíasson haben den 1943 in Bær í Dölum im Westen Islands geborenen und ab 1971 in Amsterdam lebenden Kollegen als wegweisende Figur bezeichnet. "Wenn ich eine Sprache wäre", schrieb Elíasson einmal, "wäre ich gerne diejenige Sprache, die von Hreinns Werken gesprochen wird."

Der Erfinder dieser Ausdrucksform bemühte sich offenbar wenig um eine klassische Künstlerkarriere. Friðfinnsson, der sich von Kindesbeinen an als Schöpfer sah, studierte in den 1960ern am Icelandic College of Arts and Crafts in Reykjavík. Dort war er zusammen mit drei anderen bildenden Künstlern an der Gründung der SÚM-Gruppe beteiligt, die einen Wendepunkt in der Geschichte der isländischen Kunst bedeutete. Das Phänomen begann 1965 mit einer Ausstellung in der Galerie Ásmundarsalur und im Café Mokka im Zentrum von Reykjavík, bei der von Neo-Dada über den Nouveau Réalisme bis hin zur Pop-Art verschiedene Stile gezeigt wurden. 

Dieter Roth gestaltete den Katalog, der in die ganze Welt verschickt wurde und auf großes Interesse stieß. Zum ersten Mal seit 1960 kam eine Gruppe isländischer Künstler in direkten Kontakt mit der internationalen Avantgarde. SÚM war eine lose, dezentralisierte Allianz junger Künstler, die sich nicht an eine formale Struktur oder ein Manifest halten wollte. Anfang 1969 wurde in Reykjavík die Galerie SÚM eröffnet.

Architektur, Natur und Unendlichkeit

Seine isländische Heimat mit ihrer kontrastreichen Landschaft hat Friðfinnssons Kunst deutlich geprägt. Phasenweise übernahm der Künstler den Lyrizismus eines wandernden Barden, indem er Legenden, Geheimnisse und Träume wiedergab, Geschichten erzählte, Orte oder Ereignisse beschrieb.

Außerhalb von Island war er als Künstler zwar bekannt, aber nie berühmt. 2007 wurde er mit einer Überblicksaustellung in der Londoner Serpentine Gallery gewürdigt, der eine Ausstellung in der Berliner Galerie Nordenhake im Juni 2008 folgte. Unter dem Titel "To Catch a Fish with a Song: 1964–Today" präsentierte das Berliner KW-Institute 2019 eine von Krist Gruijthuijsen und Andrea Bellini kuratierte erste Retrospektive des damals 76-Jährigen in Deutschland. 

In der Galerie des zweiten Stockwerks wurde die zwei Etagen verbindende Friðfinnsson-Wandarbeit "Palace" von 1990 gezeigt. Das Werk besteht aus Maschendraht, den der Künstler zu kleineren Honigwaben-Strukturen zerschnitten hat. An der Spitze eines wandfüllenden Dreiecks ist ein einziges Sechseck aus dünnem Draht zu sehen, darunter dann zwei Doppel-"Waben", und so weiter. Die kumulative Reihung setzt sich fort bis hin zu zwölf mal zwölf Sechsecken an der Basis, lässt sich jedoch endlos weiterdenken. Architektur und Natur (die sich in der Idee eines Bienenpalasts verschränken) sowie Unendlichkeit: Das waren Friðfinnssons zentrale Themen.

Das Geheimnis: Es gab keins

Als Konzeptkünstler lehnte er Materialeffekte ab, nutzte aber einen riesigen Katalog an Medien, Werkstoffen und Objekten, um seine Ideen umzusetzen. Malerei, Texte, Fotografie und Film kamen bei ihm zum Einsatz; Friðfinnsson arbeitete mit Papier, Holz, Seide, Samt, Glas, mit Puzzleteilen, Schuhen, Spinnweben oder Swarowski-Kristallen. 

Vor allem aber tat er sich als Sammler immaterieller Dinge hervor. Für das Langzeitprojekt "I Collected Personal Secrets" bat er zwischen 1972 und 2015 verschiedene Menschen darum, ihm ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Vor acht Jahren vollendete er sein Projekt, indem er lauter Zettel schredderte und ein Materialbild aus den Papierschnipseln klebte. Die  beidseitig zu betrachtende 90-mal-95-Zentimeter-Platte war in Berlin ausgestellt. Absurde Pointe: Friðfinnsson hatte Anfang der 70er zwar ein Inserat in einer niederländischen Kunstzeitschrift geschaltet, aber seine Bitte um Einsendungen wurde nicht erfüllt. Der Künstler hat nie ein "Geheimnis" erhalten. Virtueller als sein Schredderbild kann Kunst nicht sein.

Ein weiteres Nicht-Material für Friðfinnsson: die Zeit. "Zeitvorstellungen sind fesselnd und gebieterisch", erklärte der Künstler einmal. "Ich lese, was mir über Physik und Mathematik in die Quere kommt, aber ich lese das als Unerfahrener. Mein Interesse an der Essenz der Zeit ist ernsthaft, aber mein Umgang mit der Zeit ist nicht wissensbasiert, sondern forschend und intuitiv." 1973 notiert Friðfinnsson einen Traum und rahmt den Erinnerungstext ein: "Im Traum fand ich mich auf der Farm wieder, wo ich geboren wurde und aufwuchs. Mein Vater (der tot ist) und ich sammelten Heu auf dem Feld."

Einen Tiger zeichnen

Der Künstler träumt weiter, dass der Vater verschwindet, aber sein Schatten zurückbleibt, den der Sohn an den Rädern des Heuwagens anbringt, damit die Räder "ruhiger laufen". 1971 kombiniert Friðfinnsson zwei Fotografien miteinander, die den jungen Hreinn 1962 in Island und den Erwachsenen neun Jahre später in Holland zeigen. Auf beiden Fotos ist Friðfinnsson mit Bleistift und Papier beschäftigt. Die Fotoarbeit heißt "Drawing a tiger", ihr Gegenstand ist nicht der Tiger – dessen gezeichnetes Abbild man kaum erkennen kann –, sondern die Zeit.

Hreinn Friðfinnssons irdische Lebenszeit ist am 6. März abgelaufen. Der Künstler starb am Mittwochmorgen in Amsterdam mit 81 Jahren. Auf dem Platz seines "First House" auf dem Lavafeld der Halbinsel Reykjanes steht heute sein "Third House". Mit simplen Maßnahmen hat Friðfinnsson das All zum Innenraum umgedeutet. Irgendwo da drinnen müsste er eigentlich noch zu finden sein.