Zufällig die Doppelseite 16/17 mit der Überschrift "Standort 5, Engstringerstrasse, Einmündung Brandstrasse, Blick nach Südwesten Rietbach-Gebiet" aufgeschlagen, zeigen acht Farbfotografien die immer gleiche Ansicht. 2005 blickt man auf die Brachfläche einer frisch angelegten Verkehrsinsel von der aus rechts im Hintergrund eine Lagerhalle mit Silo und zwei Mehrfamilienhäuser zu sehen sind. Links ist eine Bushaltestelle zu erkennen. Zwei Jahre später wurden auf der Verkehrsinsel Straßenlaternen aufgestellt und junge Bäume gepflanzt. Ansonsten hat sich nichts verändert. Wieder zwei Jahre später, 2009, ist die Bushaltestelle verschwunden, weil die Straße an dieser Stelle verbreitert wird. Sonst ist alles beim Alten. Das bleibt so bis 2017 plötzlich die Lagerhalle, das Silo und die Einfamilienhäuser verschwunden sind. An ihrer Stelle stehen nun ausgewachsene Bäume, die 2019, also wieder zwei Jahre später, einem mächtigen Rohbau weichen müssen, der am Ende wohl ein Bürogebäude sein wird.
Diese Bilder zeigen wie die von weiteren 68 Standorte also eine alltägliche räumliche Situation, wie wir sie aus dem Zusammenspiel von Architektur, Landschaft, Verkehrsraum und Möblierung des öffentlichen Raums kennen. Die über einen Zeitraum von 15 Jahren im Abstand von zwei Jahren entstandenen Fotofolgen bilden das Zentrum eines künstlerischen Forschungsprojekts, das von Meret Wandeler und Ulrich Görlich am Institute for Centemporary Art Research der Zürcher Hochschule der Künste konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Planungsbüro Metron AG und der Stadt Schlieren durchgeführt wurde.
Forschungsziel war es den so gut wie nie beachteten Prozess der kontinuierlichen Entwicklung eines städtischen Raumgefüges sichtbar zu machen. Entsprechend lautet der Untertitel der zweibändigen Neuerscheinung "Stadtwerdung im Zeitraffer" im Verlag Scheidegger & Spiess "Die Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren 2005-2020 zeigt, wie sich das Schweizer Mittelland entwickelt."
"Ästhetischen Fürsorge"
Wie schon auf den Seiten 16/17 deutlich wird, beschwört die fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren also weder die nach wie vor wirkmächtigen Bilder der europäischen Stadt mit ihrer Blockrandbebauung noch interessiert sie sich für die architektonische Qualität der Neubauprojekte, deren Hochglanzbilder sonst für den Aufbruch in der Stadtentwicklung stehen.
Demgegenüber versteht sich die Langzeitbeobachtung als Ausdruck einer "ästhetischen Fürsorge" für die suburbane Landschaft der Agglomeration, wie es die Stadtplanerin Anne Brandl in ihrem Essay "Von Schlieren (einfühlendes) Sehen lernen" formuliert. Ästhetische Fürsorge versteht die Autorin als "sinnliche, von unserer Wahrnehmung ausgehende Zuwendung", deren Voraussetzung Aufmerksamkeit ist, also "das bewusste Hinwenden und Sich-Einlassen auf eine räumliche Situation".
Um dies zu ermöglichen inszenieren die Bildautoren – neben Meret Wandeler und Ulrich Görlich die Fotografen Christian Schwager und Elmar Mauch – nicht, sie dokumentieren, nüchtern und sachlich. Dass ihre Fotos, aufgenommen aus der Perspektive eines Fußgängers oder einer Fußgängerin im banalen räumlichen Alltag der Agglomeration, kühl und distanziert wirken, liegt auch daran, dass weder Menschen noch Tiere im Bild sind. Der gebaute Raum wirkt in den Fotografien wie eine leere Bühne kurz vor Beginn der Vorstellung.
Dieser menschenleere Raum gehört ebenso zum Konzept der fotografischen Langzeitbeobachtung wie die standardisierten Aufnahmeorte auf öffentlichem Grund, die einerseits Gebiete in den Fokus rückten, für die eine starke Entwicklung prognostiziert wurde, wie verschiedene Gewerbegebiete.
In der Tradition der "New Topographics"
Andererseits wurden auch Ortsteile beobachtet, für die nur geringe Veränderungen erwartet wurden, wie bestehende Wohngebiete und Gebiete am Schlieremer Berg und an der Limmat. Zu den ursprünglich 63 Standorten kamen im Laufe des Projekts noch sechs weitere hinzu. Die Aufnahmen wurden bei Sonne, in der Zeit zwischen Juni und September mit einer digitalen Kleinbild-Spiegelreflexkamera gemacht, die Brennweite lag im moderaten Weitwinkelbereich.
Interessanterweise werden beim Betrachten der jeweils achtteiligen Bildsequenzen jenseits simpler Vorher/Nachher-Vergleiche konkrete Transformationsvorgänge sichtbar, die vom Ergänzen, Bereinigen, Auffüllen, Aneignen, Verschwinden, Anreichern, Ersetzen, Schützen, Wiederbeleben, Aufwerten, Vernetzen oder einfach nur vom Zulassen handeln.
Künstlerisch beziehen sich die Initiatoren des Projekts auf die Arbeit "Siedlungen, Agglomerationen" (1993) von Fischli/Weiss, ein Ironie gesättigter Ausflug des Künstlerduos mit der Kamera in die Vororte, Randbezirke und Ausfallstraßen von Zürich. Vor allem aber sehen sie sich in der Tradition der epochemachenden Ausstellung "New Topographics" (1975), deren Kurator Richard Jenkins den "stillosen Stil" der beteiligten Fotografen hervorhob, der den Alltag zu seinen eigenen Bedingungen Gestalt annehmen und in all seiner bedauerlichen Gewöhnlichkeit zu Wort kommen lasse.
Vom "Abfallkübel" zur Dienstleistung-Stadt
Was dieser Alltag in der fotografischen Langzeitbeobachtung Schlieren nun erzählt, ist eine überaus spannende Geschichte. Denn Schlieren, im Einzugsgebiet von Zürich gelegen, hat sich im Beobachtungszeitrum stark verändert. Ursprünglich ein bedeutender Industriestandort mit dörflichem Charakter, geriet Schlieren ab den 1980er-Jahren durch die Abwanderung der wichtigsten Industriebetriebe in eine Krise.
Zeitweise zentraler Umschlagplatz für den Gebrauchtwagenhandel mit entsprechendem Imageschaden – eine Reportage des "Tages-Anzeigers" sprach vom "Leben im Abfallkübel des Kantons" – wurde mit dem "Stadtentwicklungskonzept Schlieren" erstmals in der Schweiz ein langfristiges, übergreifendes Konzept entwickelt, das den im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs wieder an Schlieren interessierten Investoren Regeln, aber auch Planungssicherheit gab.
Das heute 20.000 Einwohner zählende Schlieren hat sich zu einer Dienstleistung-Stadt mit unter anderem Universitätsinstituten und Forschungslabors entwickelt, wie die Aussage des geborenen Schlieremers Rolf Wild, ehemals Chefbeamter in der Stadtverwaltung, deutlich macht: "Im Unterschied zur Industrie damals weiß die breite Bevölkerung heute nicht, was auf dem Wagi-Areal wirklich abgeht. Dass dort praktisch nur noch Englisch gesprochen wird, ist sicher auch ein Grund für die relativ lockerere Beziehung".
Dorfgemeinschaft wird Stadtgesellschaft
Früher bedeutete "nach Schlieren kommen für mich heimkommen. Das ist heute nicht mehr so", sagt er noch. Nicht nur das Ortsbild hat sich verändert, sondern auch das soziale Gefüge. Aus der Dorfgemeinschaft ist eine Stadtgesellschaft geworden.
Die Neuerfindung Schlierens auf den nicht sichtbaren Ebenen, von der Planung bis zu den gesellschaftlichen Veränderungen, wird im sogenannten Essayband verhandelt, wo in den Gesprächsprotokollen mit beteiligten Stadtpolitikern und Wissenschaftlern auch die Aussage von Rolf Wild zu finden ist. Die Fotoserien haben in dem als Querformat gestalteten Archivband ihre adäquate Darstellung gefunden.