Sie sind von erhabener Monumentalität und beeindruckend schön, die zwei Wasserfälle, die in der unterirdischen Ausstellungshalle des Silent Green von der Decke zum Boden fallen. Erkennt man dann in den winzig kleinen Pappfiguren, die vor den digital projizierten Kaskaden am Boden stehen - Politiker wie Assad, Saddam Hussein, Francois Mitterrand oder Margaret Thatcher -, dann wird Walid Raads Videoinstallation "Kamerad, Führer, Kamerad, Führer, wie schön, dich zu sehen" (2022) auch noch sehr lustig und natürlich böse. Denn die Pappkameraden stehen für internationale Unterstützung der Milizen im Libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) durch Waffen und Bargeld, was diese mit der Benennung der Wasserfälle nach ihren jeweiligen Förderern honoriert haben sollen. Dass die Namen häufig wechselten, versteht sich von selbst.
"An Atypical Orbit" ist das Motto, das die Leitung der Berlinale-Sektion "Forum Expanded", Ala Younis und Ulrich Ziemons, der diesjährigen Ausgabe mit den Ausstellungen im Silent Green, im Savvy Contemporary und im Marshall-McLuhan-Salon der kanadischen Botschaft gaben. Dass die Arbeiten politische und persönliche Vermächtnisse, oft problematischer Natur, zum Thema haben, soll die vorgestellten Arbeiten verbinden. Wobei die Umlaufbahn, also Art und Methode, in der das Thema um- und eingekreist wird, eher unerwartet und atypisch ist. In jedem Fall aber verlaufen lange Strecken dieser Umlaufbahnen im 20. Jahrhundert.
Das beginnt schon mit dem groß auf Transparentstoff aufgezogenen Schwarzweißfoto am Beginn der Ausstellung im Silent Green. Die Aufnahme von 1973 zeigt das Kino Arsenal an seinem ersten Standort in der Berliner Welserstraße. Statt auf die Leinwand schaute das Publikum auf viele einzelne Fernseher. Damals die einzige Möglichkeit, Videos zu projizieren. Und weil nun das Arsenal in diesem Jahr sein 60-jähriges Jubiläum feiert, ist hinter dem Fototransparent die Szene nachgebaut, samt den Videos der Vorführung am 18. April 1973, die vom inzwischen verstorbenen japanischen Avantgarde-Filmer Takahiko Iimura stammen.
Das Home-Movie-Material, das der ägyptische Filmemacher Tamer El Said in seiner bezwingenden Installation "Borrowing a Family Album" nutzt, wurde knapp zehn Jahre früher aufgenommen. Tamer El Said gehört zu den wenigen Menschen, denen die Kindheitsfotos fehlen. Sind sie bei einigen nie gemacht worden, bei anderen verschwunden. El Saids Familie reagierte auf den Unfalltod seiner Schwester - wohl um den vierjährigen Bruder zu schützen - , indem sie jegliche Erinnerung vernichtete, seien es Spielsachen, Kleider, ja sogar ihren Namen und das Familienalbum.
Im Silent Green lässt der Filmemacher, den nur der Versprecher eines Verwandten in seinem Verdacht bestätigte, einmal eine Schwester gehabt zu haben, viele kleine Screens im Din-A4-Format von der Decke hängen. Auf ihnen spuken geisterhaft verschwommene Bilder. Erinnerungen an das, was man nicht erinnern kann. Dazu kommt ein Tisch mit einer Vitrine voller Kinderfotos, die das Publikum in die Alben kleben kann, die auf dem Tisch ausliegen. Dahinter laufen auf einer dreiteiligen Videowand die Amateurfilme der Familie Rigopoulos, die Georgios Rigopoulos zwischen 1966 und 1968 in Griechenland aufnahm. Tamer el Said vereinnahmt sie versuchshalber, um zu schauen, ob diese Erinnerungen von Leuten, die er nie getroffen hat, ihm helfen können, sich eine eigene Geschichte mit seiner Schwester auszumalen.
Die Familie ist auch Tenzin Phuntsogs Thema. Der Künstler tibetanischer Herkunft zeigt in "Dreams" seine schlafenden Eltern in einem weißen Raum, auf einer schmalen Matratze, gestrandet wie auf einen Floß. Nur die indische Decke, mit der sie sich zudecken, nahm seine Mutter mit, als die Familie aus Tibet in die USA emigrierten. Auf Videos, die in drei kleine kostbare Schachteln eingebettet sind, kann man in "Achala", "Dancing Boy" und "Summer Grass" über WeChat geteilte Aufnahmen der tibetanischen Verwandtschaft bestaunen. 2020 verbot die Trump-Regierung WeChat in den USA. Ende 2021 hob ein Gericht diesen Erlass vorläufig wieder auf.
Ins 20. Jahrhundert zurück führt die bemerkenswerte Ausstellung im Savvy Contemporary über das feministische Filmkollektiv Yugantar in Bengaluru, Indien. Die Gruppe bestand zwischen 1980 und 1984 und schuf in dieser Zeit vier bahnbrechende Filme in Zusammenarbeit mit bestehenden oder entstehenden Frauengruppen. Die Ausstellung verdankt sich Deepa Dhanraj, einer der vier Filmemacherinnen, die heute noch als Dokumentarfilmerin arbeitet und zur Zeit in Berlin ist. Mit ihr trat Nicole Wolf von der Goldsmiths University in London in Kontakt für ihre Recherche zum indischen Dokumentarfilm. Sie konnte dann das Arsenal für die Restaurierung der Filme gewinnen.
Ein Kind, natürlich ein Mädchen, wäscht an einem Brunnen Geschirr und bringt es sauber ins Haus zurück, wo es der Hausherrin sagt, dass es einen freien Tag haben möchte. Die antwortet aus dem Off, ja, du kannst einen Teil des Tages frei haben. Das meine sie nicht, entgegnet das Mädchen und insistiert auf einem ganzen Tag. Das Kollektiv begleitet Hausangestellte, während sie sich gegen ihre elenden Arbeitsbedingungen wehren. Noch radikaler gehen die Tabakarbeiterinnen in Nipani mit einem großen Streik vor, der Folgen für ganz Indien hat. Ein weiterer Film entstand mit den Frauen der Chipko-Bewegung, einer ökofeministischen Umweltbewegung gegen die Abholzung der Wälder. Lohnend sich zu vergegenwärtigen, wie lebendig die politische Landschaft Indiens ist, das damals eine Zeit des politischen und gesellschaftspolitischen Umbruchs erlebte.
Ende der 1980er-Jahre ist dann die ganze Welt im Umbruch, was der Vater in den Briefen an seine Tochter Fiona Tan klug und sensibel analysiert. Der Film "Dearest Fiona" läuft im Programm des Forum, passt aber geradezu idealtypisch in "An Atypical Orbit". Immerhin liegt zwischen Bild- und Tonspur ein Unterschied von einem knappen Jahrhundert, und so scheint zunächst auch die Welt des Bilds und die des Tons wenig miteinander zu verbinden. Denn während der Vater in Australien neben familiären Neuigkeiten in seiner überlegten Art die dortige Einwanderungspolitik, das Geschehen auf dem Tian'anmen-Platz und den Fall der Berliner Mauer kommentiert, zeigen die Bilder das Alltags- und Arbeitsleben in den Niederlanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Zu besichtigen sind Menschen, die tatsächlich in der Tracht und den Holzschuhen daherkommen, wie sie uns aus der "Frau Antje"-Käsewerbung vertraut sind. Die mit Witz und Verstand kompilierten Dokumentarfilme aus dem Archiv des Eye Filmmuseum in Amsterdam zeigen eine auffallend fleißige, arbeitssame Gesellschaft, die aber letztlich ihren Wohlstand vor allem ihren Kolonien verdankt. Das bedacht sind die Umlaufbahnen von Bild und Ton plötzlich einander ganz nah, denn Fiona Tan, die bekannte indonesisch-australische Künstlerin, studierte damals nicht ohne Grund in den Niederlanden. Ihre Familie entstammt dem kolonialen Kontext. Ihre Mutter ist schottisch-australischer Abstammung, ihr Vater ein Chinese, der noch in Niederländisch-Indien aufwuchs (wie Indonesien bis 1949 hieß), bevor die Familie nach Australien ging.