Verblüffung bei der Ankunft in der Pariser Fondation Cartier pour l’art contemporain. Wer erwartet schon beim Besuch einer Kunstausstellung in der Schule zu landen? Fabrice Hyber traut sich was. 20 Klassenzimmer lies er im Erd- und Untergeschoß von Jean Nouvels Glashaus am Boulevard Raspail einrichten, mit Tischen und Stühlen aus Holz und bunt lackiertem Stahlrohr, selbst die Kleiderhaken in den Gängen wurden nicht vergessen. Die Stelle der Schiefertafel nehmen die Gemälde des Künstlers ein.
Die Klassenräume freilich sind ein einziges Vergnügen, so hell, so freundlich und so anregend präsentiert, hätte man sich den eigenen Unterrichtsstoff gewünscht. Mit "Ja!" beantwortet Hyber die naheliegende Frage, ob er als Kind gerne in die Schule gegangen ist. Er mochte die Situation, wenn etwas an der Tafel erklärt wurde. Später habe er sie in seinem Mathematikstudium wiederentdeckt und dann in seine Kunst eingeschleppt. Das zeige das Bildformat, das er gleich zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn gefunden und seither beibehalten habe. Er male seit jeher Tafelbilder im wahrsten Sinne des Wortes.
60 Leinwände zeigt die Ausstellung, und was auf ihnen passiert, ist Kunst und nicht Schule, trotz aller Liebe zur Demonstration. Gleich im ersten Klassenzimmer im Untergeschoß fasziniert "Climat de là (L’eau de là)" von 2015, das Gemälde eines Baums, dessen Äste statt grüner Blätter tiefblaue Kreise tragen, interpretierbar als das Regenwasser, das der Baum bekanntlich mitproduziert. In einem der blauen Kreise sitzt eine grüne Blase und sichtlich vergnügt ist in ihr ein roter Goldfisch unterwegs. Vom Boden steigt ein Regenbogen empor, mit seinem Scheitel unter der Blase, der die Situation farblich verankert.
Bollwerk gegen die Monokultur der Maisplantagen
Die Menschen links neben dem Baum könnten mit ihren leeren Gesichtern auch Gespenster sein. Neben ihnen findet sich die Kohlezeichnung eines Hunds, dessen Kopf in der berühmten kegelförmigen Schutzhaube steckt, die ihn daran hindert, sich zu lecken. Und natürlich fallen die Wörter ins Auge, die sich am linken Bildrand regelrecht übereinanderstapeln, ansonsten treiben sie zusammen mit weiteren Notierungen im Bildraum umher.
Das mächtige Format und die Fülle des Bildinhalts bringen den Blick zum Fliegen. Er dringt in die Tiefe vor, schaut sich die Szenerie dann von oben an, um im nächsten Augenblick am Boden zu landen, bei einer kleinen, mit roter Farbe umrahmten Kohleskizze einer Landschaft mit gefurchtem Boden, teils auch überschraffiert. Diese Skizze könnte an den Ursprung des Projekts "La Vallée" erinnern, das Hybers Ausstellung den Titel gibt.
La Vallée, das sind 100 Hektar Land die zum Gehöft La Serrie in der Vendée gehören, wo der heute 61-jährige Künstler aufwuchs. Seine Eltern waren Pächter, die hier Schafe züchteten. Als sie 1990 in Rente gingen, drohte das Land, das niemals mit Pestiziden oder Düngemitteln Bekanntschaft gemacht hatte, der industriellen Landwirtschaft zuzufallen. Daher entschloss sich Hyber, das Land zu kaufen, als Bollwerk gegen die umgebende Monokultur der Maisplantagen.
Wald voller Bäume
Obwohl er den Erwerb des Landes als künstlerisches Projekt betrachtete, blieb es lange "intellektuelles Brachland", wie er sagt. Erst als er 1997 auf der Biennale von Venedig den Goldenen Löwen für den französischen Pavillon gewann, begann er gemeinsam mit seinem Vater Bäume zu pflanzen. Ein teures, verlustreiches Unternehmen. Wäre es denkbar, Wald zu säen?
Wie die Skizze in "Climat de là" zeigt, stellte es sich in dreijährigen Experimenten mit verschiedenen Methoden am effektivsten heraus, im späten Frühjahr schmale Furchen in den Boden zu ziehen, die über den Sommer wieder ein wenig zuwachsen. Wenn dann die Samen im Dezember ausgebracht werden, gehen sie fast alle an. Denn sie bilden ihre erste Wurzel in einer idealen Umgebung aus. Auf diese Weise wachsen seither starke Bäume heran, und weil die Samen von allen möglichen Sorten stammen, entsteht ein artenreicher Wald.
Viele der gezeigten Arbeiten behandeln Erinnerungen, Fragen und Überlegungen, zukünftige Pläne im Zusammenhang mit La Vallée. Im Gemälde "La Serrie, paysage biographique de mes parents" von 2022 ist das didaktische Moment in Hybers Kunst deutlich zu sehen. Das Bild berichtet von der Entwicklung des Ortes ausgehend von einer kargen farblosen Landschaft am linken Bildrand, die sich in Leserichtung nach rechts mehr und mehr füllt und grüner und bunter wird. Am Ende erkennt man den Baum wieder, dem Fabrice Hyber unter dem Titel "Impossible – 100 pommes, 1000 cerises" schon 2006 ein liebevoll ironisches Porträt samt beweisführender mathematischer Formel widmete.
Äpfel aber auch Karotten spielen neben den Bäumen wiederkehrende Rollen in den Gemälden, in denen Hyber mit der Landschaft deren Art der Bewirtschaftung verhandelt, in Bächen und Seen dem Umgang mit fliesendem Wasser nachgeht, Wolken und Regen beobachtet und natürlich die Sonne. Weitere Motive, die ihn beschäftigen sind das Darm-Gehirn, das große Informationsverdauungssystem, das ihn seit den 1990er-Jahren beschäftigt und die menschliche Figur, die er gerne vollkommen grün darstellt und so an die ironische, aus unzähligen Löchern wasserlassende Brunnenfigur seines Homme de Bessines von 1992 anknüpft.
Die Leinwand als Storyboard
Die Leinwand dient Hyber also dazu, den Prozess des Nachdenkens in Form komplexer Storyboards darzulegen. In ihnen werden die unterschiedlichsten Themen berührt, das zeigen Titel wie "Le musée du plastique" (2022), "Holly Holly Oil" (2006), "War" (2008) oder das Wimmelbild voll instruktiver Sexszenen "Je sais No. 5" (2022). In der "Paysage de mesures" (2019) sind weitere bildkonstituierende Elemente wie Pfeile, Tabellen und Skalen in Form von XY-Kurven oder Kreissegmenten zu finden. Spiralen und immer wieder Ellipsen animieren den Blick, Zusammenhänge zu suchen.
Obwohl Fabrice Hyber sich dagegen verwehrt, sein malerisches Werk als dekorativ zu sehen und auf seiner Funktion der Beweisführung besteht, ist die Begegnung mit seinem Werk ein ästhetisches Ereignis. Seine virtuos in Szene gesetzte Malerei nimmt durch die Lässigkeit ein, mit der Hyber die Farbe auf die Leinwand setzt. Die Ölfarbe trägt er extrem dünnflüssig auf, fast wie Aquarellfarbe, nachdem er zunächst mit Kohle oder auch Pastell begonnen oder auch mal Blattgold gearbeitet hat.
Lässig ist auch sein Umgang mit dem Maßstab, zwischen kräftigen, hochaufragenden Baumstämmen, collagiert er auch mal kleinere Papierarbeiten oder Objekte ein, kritzelt Formeln, um dann noch einmal groß auszuholen wie es seinem Panoramaformat entspricht, das ja selbst ein Spiel mit dem Maßstab ist, indem es das Skizzenbuch in die mannshohe Leinwand übersetzt.
Das Schulprogramm
Der unbestreitbare Glamour seiner Leinwände verdankt sich dann tatsächlich einem Glanz, der nur ihm zu Verfügung steht. Denn auch bei der Malerei selbst – nicht nur bei den von ihr behandelten Themen – holt sich Hyber Expertise ein. Mit einem Chemiker betrieb er die Entwicklung eines ausschließlich ihm vorbehaltenen Firnis aus Epoxidharz. Er verleiht den Leinwänden ein besonderes Licht. Und tritt man näher an die Leinwand sind darunter die vielen sich überlagernden Schichten gut sichtbar.
Es wäre natürlich sehr verwunderlich, wenn in den Klassenräumen in der Fondation Cartier nicht wirklich Unterricht stattfände. Ein ehrgeiziges Residenzprogramm ermöglicht es 13 Klassen aus Grund- und weiterführenden Schulen, sich über das kommende Jahr hinweg in Paris am Boulevard Raspail und in Fabrice Hybers Studio in der Vendée zu treffen, um über Fragestellungen zu arbeiten, die sie in Hybers Arbeiten identifizieren. Hilfestellung gibt ihnen der Künstler selbst in seinen kurzen Videoclipbemerkungen zu den Arbeiten, die sich über den QR-Code neben dem Bildtitel aufrufen lassen.
Welche Themen Experten wie Astrophysikerinnen, Historiker, Gärtner, Küchenchef, Schriftstellerinnen, Ingenieure, Choreografinnen und Sexualwissenschaftler in Hybers Werk entdecken, wenn sie sich je zu zweit einmal pro Woche in der Ausstellung unterhalten, lässt sich im Podcast "Voices of the Valley" nachverfolgen; und damit eine der Möglichkeiten der zeitgenössischer Malerei sich als relevante Stimme im gesellschaftspolitischen Diskurs auszuweisen.