Die Sonne ist gerade untergegangen, das Berliner Grau ist grauer als sonst, und es nieselt. Umso mehr strahlen die Werke von Else Hertzer im Verein der Berliner Künstlerinnen (VdBK). Verschiedene Rahmen und Formate, Techniken und Motive scheinen nur darauf zu warten, dass man sie schon von weitem sieht. Auf der königsblauen Raufasertapete heben sich die Werke perfekt ab, die Farben stechen beinahe. Der erste Blick fällt auf ein Selbstporträt der Künstlerin. Ihr Gesicht wirkt zufrieden, ruhig, freundlich. Über dem Gesicht wirbelförmig gemalte Wolken. Auch in Grau.
Else Hertzer war Künstlerin der Berliner Secession und Mitglied ebendieses Vereins der Berliner Künstlerinnen. Auch heute macht es sich die Institution zur Aufgabe, vergessene weibliche Positionen (wieder) bekannter zu machen. Nach Ausstellungen mit Malerinnen wie Julie Wolfthorn ist jetzt Else Hertzer in Schöneberg zu sehen. So wird der geschichtliche Nebel, der über vielen Frauen in der Kunst lag und liegt, im Idealfall etwas lichter.
Hertzer wurde 1884 in Wittenberg geboren, heiratete einen wohlhabenden Mann und zog nach Berlin. Sie lernte an einer Privatakademie bei Ernst Neumann und George Mosson, hielt sich während ihres Studiums in Paris auf. Immer wieder wurden Werke bei der Berliner Secession gezeigt, einer Künstlergruppe, die unter anderem mit Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt Internationalität in die deutsche Kunstwelt brachte und als eine Keimzelle der Moderne gilt. Durch ihren Ehemann wurde ihr finanziell ein Leben als Künstlerin ermöglicht, und sie konnte sich stilistisch auf die Lieblingsgebiete ihrer Ausbildung festlegen: (Druck)-Grafik und expressionistische Malerei.
Emotion und Expression
Historische Fotografien zeigen Else Hertzer mit trotzigem Blick, den Arm in die Hüfte gestützt. Was fühlt man als junges Mädchen in Zeiten der Weimarer Republik, wenn man Künstlerin werden will? Die großen, staatlichen Akademien sind nicht interessiert an ihrem Geschlecht. Sie käme nicht einmal in die Runde der Eignungsprüfungen. Auch wie es mit sozialer Absicherung und Ausstellungs- oder Verkaufsmöglichkeiten aussieht, stand für Frauen in den Sternen.
Else Hertzer war privilegiert genug, sich privat ausbilden zu lassen. Bereits ihre ersten Werke sind ausdrucksstark und vermitteln einen Eindruck von Selbstbewusstsein. Für ihre frühen Malereien von Großstadtszenen wählte sie tiefe Farben, so auch in der "Mobilmachung" von 1918. Die politische Situation, das Ende der Monarchie, ließ sie offenbar nicht kalt. Der aufgerissene Mund der Person im Zentrum des Werkes schreit im Edvard-Munch-Stil, schaut mit leerem, geisterhaftem Blick zu den Betrachtenden. Impulsive Striche, eine düstere Aura und geschwungene Umrisse signalisieren Aufgewühltheit. Es ist spürbar, wie die sonst so pulsierende Stadt Berlin in Zeiten der Umbrüche kurz einfriert.
Kraftvolle, sichere Pinselführung prägt auch ihre Aquarelle. Sie sprechen eine andere Sprache, oder vielleicht eher einen anderen visuellen Dialekt. Sie sind feiner, weniger flächig. An manchen Stellen erscheinen sie spontan und mit viel Wasser gemalt. Trotzdem sind die Motive und zentralen Figuren und Formen klar und fein ausgearbeitet. Der "Boxer" von 1927 wurde in der Berliner Secession ausgestellt und zeigt eine Kampfszene. Eindringlich malt Hertzer das angestrengte, schräg gelegte Gesicht des Boxers. Die Szene scheint jeden Moment weiterzugehen, schnelle, parallele Linien sorgen für Dynamik. Die Kämpfer im Ring wirken nicht realistisch, und doch sind sie figürlich, muskulös und übermitteln in ihrer Haltung die Kraft ihrer Schläge und Hiebe.
Vom Künstlerball zum Bauernhof
Mit den Künstlerinnen Eugenie Fuchs, Valerie Wolffenstein und Julie Wolfthorn verband Hertzer eine enge Freundschaft. In einem Glaskasten in der Ausstellung liegt eine Karte aus dem Jahr 1928. "Einladung zu den Kollektiv-Ausstellungen von Eugenie Fuchs und Else Hertzer". Daneben Ankündigungen für Künstlerbälle, ihre Mitgliedskarte der VdBK, Zeitungsartikel und ihre Visitenkarte mit lilafarbenem Holzschnitt. Eugenie Fuchs war Jüdin, Else Hertzer nicht. Die Karten sind wie eine Zeitreise in die "Roaring Twenties" in Berlin. Noch deutet hier nichts auf den aufkeimenden Nationalsozialismus hin. Wie war ihre Haltung dazu? Die Kuh in "Magd mit 4 Kühen" von 1925 ist tiefrot. Vergeblich sucht man nach kleinen Hinweisen in ihrer Kunst. Mit Jüdinnen befreundet sein und sich dann der Tierwelt widmen? Von Politik zum Bauernhof? Ist das Eskapismus, ein Wegducken? Oder ist es ein verklausuliertes Bekenntnis zum Kommunismus?
Von 1925 bis in die Mitte der 30er-Jahre entstanden Bilder von Flüssen, Hühnern, Pferden, Wiesen und Mägden. Die Augen der Tiere in "Drei Kühe" von 1933 starren aus dem Bild. Über ihnen ein sichelförmiger Halbmond, der den Nachthimmel hell ausleuchtet. Flächige Fellflecken und Wiesen, daneben ein Holzschnitt. "Zwei Kühe". Expressionistisch bewegt, oder rennen die beiden Wesen einen Hang hinab? Wieder der Sichelmond. Es folgt ein Hühnerstall.
Das künstlerische Sammelsurium an Bauernhofbewohnern animiert zum Tagträumen. Else Hetzers innere und politische Überzeugungen bleiben diffus. Wie so viele ihrer Generation suchte sie andere Motive, das Landleben, Stillleben oder eben der Bauernhof. Vielleicht hat ihr die Kraft gefehlt, zu kämpfen, vielleicht suchte sie selbst Schutz. Allein als kunstschaffende Frau war sie verletzlich.
Eine wichtige Künstlerin der frühen Moderne
Das Werk "Gedächtniskiche" ist etwas größer als die anderen Bilder und zeigt äußerst detailreich den Abgang zur U-Bahn-Station Bahnhof Zoo. Ein Ort in Berlin, der auch heute noch wie ein reales Wimmelbild wirkt. Else Hertzer bildet eine Momentaufnahme von 1930 ab, die rege Szenerie ist in warmes Abendlicht getaucht, alle müssen zur Bahn.
Die Straßenbahnen strahlen in BVG-Gelb, Pagen rennen über die Schienen, im Hintergrund die riesige, noch unversehrte Kirche mit spitzem Dach. Die Menschen strömen über den stark befahrenen Ku'damm. Es gibt viel zu entdecken, und jeder, der schonmal eine 17-Uhr-Erfahrung an diesem Ort gemacht hat, kann diese Stimmung sofort aufrufen. Else Hertzer bildet die Szene so lebendig ab, als hätte man am U-Bahnhof Zoo um 17.12 Uhr den Pause-Knopf gedrückt.