Dior und die Künstlerinnen

Mehr als nur Couture-Kulisse

Maria Grazia Chiuri ist die erste Chefdesignerin bei Dior und hat sich eine feministische Agenda gesetzt. Dazu kollaboriert sie immer wieder mit Künstlerinnen - wie gerade in Paris mit der 93-jährigen Isabella Ducrot

"We should all be Feminists" steht auf den weißen Baumwoll-Leinen-Shirts, die Maria Grazia Chiuri 2016 bei ihrer ersten Modenschau für Dior auf dem Laufsteg präsentiert. Damit markiert ihr Beginn als Creative Director bei dem französischen Modehaus nicht nur eine neue Silhouette oder einen neuen Stil, sondern eine neue Denkweise. Ein Slogan, übernommen von der nigerianischen Schriftstellerin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie, unter dem die Marke von nun an operieren soll. 

Ein T-Shirt für 750 Euro läutet die feministische Ära eines Luxushauses ein? Hype, aber auch Spott folgen dem aussagekräftigen Debüt. Das Shirt wird von Fast-Fashion-Häusern kopiert und von Menschen getragen, die gern vergessen, dass Frauen ihr Statement-Stück für einen Hungerlohn zusammengenäht haben. Obgleich kontrovers, ist Chiuris T-Shirt doch kein reines Marketing-Gimmick. Dem vieldiskutierten Print folgen Taten. Maria Grazia Chiuri ist Diors erste weibliche Kreativleitung, ihr geht es darum, dem weiblichen Blick zu folgen, ihn einzufangen und für ihn zu entwerfen. Frauen sollen sich selbst durch die Augen anderer Frauen sehen können, wie sie es nennt. 

Von Anfang an lässt Chiuri alle Dior-Kampagnen ausschließlich von Fotografinnen ablichten. "Ich erinnere mich, dass jemand sagte, es gäbe nicht genügend weibliche Fotografen. Aber das stimmt nicht. (…) Ich glaube, dass wir ihnen beständig Möglichkeiten bieten müssen. Das ist sehr wichtig, denn der weibliche Blick ist ein gänzlich anderer als der männliche. Ihre Sichtweisen sind unterschiedlich." 

Haute Couture, gewidmet den Künstlerinnen

Christian Dior hatte 1947 mit dem "New Look" eine neue Silhouette geschaffen, in der sich Frauen nach Kriegsende wieder weiblich fühlen und die gleichzeitig den Wiederaufstieg Frankreichs nach dem Krieg symbolisieren sollte. Was Frauen von den Sanduhr-Kostümen tatsächlich hielten, war nicht die relevanteste Frage. Für Männer aber repräsentierten die Stoff gewordenen Rundungen die pure Femininität. 

Maria Grazia Chiuri hingegen geht es nicht darum, einzelne Frauen einzukleiden. "Wenn wir das Patriarchat herausfordern wollen, müssen Frauen mehr über Schwesternschaft und Gemeinschaft sprechen. Echter Feminismus bedeutet, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen", erklärt sie in einem Gespräch mit "The Guardian". Das bedeutet für sie persönlich, Diors Stärke und Bekanntheit zu nutzen, um eine weibliche Community zu bilden. "Ich habe sofort verstanden, dass Dior eine unglaubliche Plattform bietet, und ich wollte diese mit anderen Künstlerinnen teilen, die ihre Stimmen einsetzen, sodass wir ein facettenreicheres Bild von Frauen abbilden können."

In Diors Frühling-Sommer-Kollektion 2018 steht auf einem schwarz-weiß gestreiften Shirt: "Why Have There Been No Great Women Artists?", der Titel eines bekannten Essays der feministischen Kunsthistorikerin Linda Nochlin aus dem Jahr 1971. Ausgedruckt liegt dieser auf jedem Platz in der Location, dem Pariser Musée Rodin. Die Show ist der weiblichen Kunstbewegung der 1960er-Jahre gewidmet, allen voran Niki de Saint Phalle

Es mangelt an Repräsentation, nicht an Talenten

Angelehnt an das toskanische Haus der Künstlerin ist das Museum mit einem Spiegel-Mosaik dekoriert. Seit ihrem Debüt beweist Chiuri nun regelmäßig, dass es durchaus eine Menge großartiger Künstlerinnen gibt, indem sie ihnen eine Bühne bietet. Denn das ist es, an was es mangelt: Repräsentation, nicht Talente. 

Immer wieder inspirieren Künstlerinnen die Kollektionen und die Kulisse. Bald lässt Chiuri jede ihrer Präsentationen von der Arbeit einer anderen Künstlerin einrahmen, die mit einem Szenenbild die Mode begleitet. Joana Vasconcelos gehörte schon dazu, genau wie Mickalene Thomas oder Eva Jospin. Chiuri kollaboriert mit großen Namen, aber gibt genauso Frauen eine Chance, die der Kunstmarkt bisher außenvor gelassen hat. Für die Haute-Couture-Schauen Sommer 2024, die gerade in Paris stattgefunden haben, fiel Chiuris Wahl auf Isabella Ducrot.

1931 in Neapel geboren, beginnt Ducrot ihre künstlerische Karriere erst im hohen Alter. Gewebte Stoffe und gerade der sogenannte Schussfaden gelten als der Ausgangspunkt ihres Schaffens, der karierte Stoff als ihr Markenzeichen. Auch für die Dior-Schau fertigt Ducrot eine Karo-Kulisse an, eine monumentale Installation mit dem Titel "Big Aura". Die miteinander verwobenen Linien werden von mehr als 20 überlebensgroßen Kleider-Zeichnungen dominiert, deren Design an die Gewänder osmanischer Sultane angelehnt ist. 

Neuinterpretationen des "New Look"

Die absichtlich übertriebenen Proportionen der Entwürfe sind eine Hommage an das skulpturale Erbe des französischen Modehauses. Ein Motiv, das auf die Entwürfe von Christian Dior in den 1950er-Jahren zurückgeht und an dem sich auch Chiuris Kollektion orientiert. Neuninterpretationen des "New Looks" in schlichter Baumwolle, aber auch in schillernden Moiré-Stoffen, bestimmen das Bild. Chiuri schickt moderne Versionen von Christian Diors berühmten "Cigale"-Kleides über den Laufsteg, tragbar für Frauen jeden Alters. 

"Es verweist auf die höfische Kleidung des 18. Jahrhunderts, aber er ist auch ergonomisch wie die Autos und Flugzeuge seiner Zeit, für die er sich interessierte", erklärt sie Diors Ansatz. Das "Mexique"-Kleid aus dem Jahr 1951 greift sie in abgewandelter Form auf, ebenso wie den klassischen Trenchcoat und den unverwechselbaren Bar-Suit. So bilden Ducrots und Chiuris Werke eine Symbiose von Kunst und Mode: das eine erlangt Sichtbarkeit, das andere wird durch einen künstlerischen Ansatz untermauert und so mit Relevanz aufgeladen. 

Eine von Chiuris bekanntesten Kollaborationen ist wohl die mit Künstlerin Judy Chicagor Diors Frühling-Sommer-Couture-Schau im Jahr 2020. Chicagos in den 1970er-Jahren entstandener Entwurf "The Female Divine", eine 70 Meter lange, aufblasbare Installation, die an die weibliche Silhouette erinnert und mütterliche, göttliche Kräfte symbolisieren soll, wird als Stätte des Spektakels umgesetzt. Für den Innenraum entwirft die Künstlerin handbestickte Banner, auf denen die zentralen Fragen ihrer Arbeit stehen: "Was, wenn Frauen die Welt regieren würden?", "würden alte Frauen wertgeschätzt werden?", "würde es Gewalt geben?". 

"Ein Mittel zur Stärkung der Frauen"

Der Laufsteg in der Form einer Gebärmutter, die Models als Göttinnen gedacht, die in Chiuris goldenen Kleidern, inspiriert vom griechisch-römischen Peplos, darüber schreiten. "Ich hoffe, dass dieses Projekt einen Beitrag zum Verständnis dafür leisten kann, wie Kunst im Rahmen der Mode ein echtes, bedeutungsvolles Angebot machen kann. Und ich hoffe auch, dass es zu einem Wandel beiträgt, damit Mode ein Mittel zur Stärkung der Frauen wird und nicht ein Symbol für die Unterdrückung der Frauen“, erklärte Chicago wenige Tage vor der Schau.

Mode als "Empowerment", das ist auch Chiuris eigener Auftrag. Doch bewegt sie sich dabei in einem veralteten Standard, dessen Grenzen sie zu wenig ausdehnt. So sehen es zumindest ihre Kritiker. Als sie in Rom aufwuchs, habe sie außer einer Frida-Kahlo-Ausstellung keine Kunst von Künstlerinnen zu Gesicht bekommen. Diese krasse Unterrepräsentation habe in ihr große Zweifel aufkommen lassen, dass sie als Frau in einem kreativen Beruf erfolgreich werden könne, sagt Chiuri über ihre Anfänge. 

Heute wird sie selbst für das Ausschließen kritisiert: Auf ihren Laufstegen finden sich fast ausschließlich dünne, weiße, junge Models. Die Pariser Mode und gerade die Haute Couture sind ein strenges und traditionelles Milieu, bestimmte Normen werden nicht verlassen. Kleider, Frauen und Kunst werden gefeiert, aber nicht jedes Alter, jede Größe, jede Kultur und jede Gehaltsklasse gleichermaßen. 

Noch viel Luft nach oben

Während Chiuris feministischer Gemeinschaftsgedanke und ihre Verbindungen mit Künstlerinnen als zeitgemäß und inklusiv eingestuft werden können, traut auch sie sich nicht, tatsächlich aus dem Rahmen zu fallen. Chiuri gehört zu den Designerinnen, die Feminismus und Femininität zu vereinen suchen. Sie prägte Fendi und Valentino hinter den Kulissen als Designerin, über 30 Jahre lang. 

Und doch ist die Überraschung groß, als sie als erste Frau das Maison Christian Dior übernehmen darf. Seit ihrem dortigen Debüt hat sich der Gewinn des Hauses verdreifacht. Und obwohl, wie fast immer und überall in der Mode, noch viel Luft nach oben ist, wenn es um Inklusion geht, stellt Chiuri die Weichen in die richtige Richtung. Eine kleine Künstlerinnen-Kollaboration nach der anderen.