Zum Tod des Fotografen Michael Ruetz

Dabeisein ist eine Kunst

Michael Ruetz 2023 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, fotografiert von Amélie Losier
© Amélie Losier

Michael Ruetz 2023 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, fotografiert von Amélie Losier

Der Berliner Michael Ruetz hat die 68er-Revolte in ikonischen Bildern festgehalten, sollte aber nicht darauf reduziert werden. Mit Langzeitbeobachtungen begleitete er den Wandel seiner Heimatstadt. Jetzt ist der Fotograf mit 84 Jahren gestorben

Nun werden wieder die Bilder von '68 gezeigt, von den Demos auf dem Ku'damm, den Wasserwerfern, den Sit-ins in der FU, den Kommunarden im Lotterbett. Das alles hat Michael Ruetz fotografiert. Und wer damals dabei war – es sind ja zunehmend weniger –, wird sich mit verzücktem Lächeln an eine Zeit erinnern, da alles nicht nur möglich schien, sondern tatsächlich war, weil die Studenten und SDSler die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen brachten, wie Marx so ähnlich gesagt hatte. Aber so ganz genau hat man den Marx auch damals nicht gelesen, lieber nur zitiert, versetzt mit antiimperialistischer Rhetorik, immerhin kämpfte der Vietcong ein paar tausend Kilometer entfernt.

Als die Akademie der Künste 2008 an '68 erinnerte und eine entsprechende Podiumsdiskussion veranstaltete, hatte das dicht gedrängte Publikum die Fotografien von Ruetz vor Augen; gerade lief am Pariser Platz eine Ausstellung mit einem Querschnitt seines riesigen Œuvres. Ruetz aber verwahrte sich dagegen, als 68er vereinnahmt zu werden, weniger aus politischer Distanz denn aus Verärgerung, immer wieder auf diese Ikonen der Zeit der Studentenproteste festgenagelt zu werden, auf Teufel und Langhans auf dem Tisch, auf Rudi Dutschke im Strahlenkranz eines Scheinwerfers, auf die Vollversammlung im Audimax.

Aber so ist das nun einmal, wenn ein Fotograf die Hand am Puls der Zeit hat. Ruetz war nicht der einzige, wie das jetzt in etlichen Nachrufen behauptet wird; der gleichaltrige, damals in West-Berlin lebende Schwede Bernard Larsson machte ebensolche "ikonischen" Bilder, zu Unrecht fast vergessen. Und ging interessanterweise auch in der DDR auf Motivsuche, wie Ruetz, gebürtiger Berliner, auch. Das unterschied ihn von der West-Berliner Intelligenzija, denn die hatte mit der Realität der DDR nichts im Sinn und urlaubte lieber in Griechenland.

"Genau und unverwandt hinsehen"

Da war Ruetz auch, aber nicht zur Erholung, sondern um die bittere Realität festzuhalten, wie er überall bittere Realitäten aufspürte. Man muss nur das Foto der sonnenbeschienenen Akropolis in der Ferne mit einem Schrottplatz im Vordergrund sehen, um zu erkennen, dass Ruetz nicht gefällig sein konnte. Nach dem 68er-Rausch engagierte ihn die Illustrierte "Stern", damals der bestzahlender Hort "der" deutschen Reportagefotografie.

Ruetz, Jahrgang 1940, hielt es allerdings nur fünf Jahre mit der Terminhatz aus, dann begann er zunehmend, sich der Langzeitbeobachtung zu widmen. Heraus kamen Bilderserien von jeweils gleichen, notfalls mit Mühe und GPS-Ortung wieder aufgefundenen Standorten, um das Vergehen der Zeit anhand der Veränderung der physischen Welt zu dokumentieren. Diese "Timescapes", wie er sie nannte, stellte die Akademie, zu deren Mitglied er 1998 gewählt worden war, erst im Frühsommer dieses Jahres wieder aus. Der Kontrast zu den Bewegtbildern der Studentenrevolte hätte nicht größer sein können.

Michael Ruetz hat anfänglich Sinologie studiert, darüber kam er in Kontakt mit Büchern und Pamphleten aus Rotchina, wie man damals noch sagte. Er las sie 1964 in Prag, wo der reichhaltigste Bestand in Europa zu finden war. Im stillen Prag ging ihm sozusagen der fotografische Blick auf, nach der Rückkehr kaufte er seine erste Kamera. Die Sinologie wurde dann ein Opfer der Studentenbewegung.

Weil er dazugehörte, konnte er ungestört inmitten der Protestler fotografieren, aber was die Studenten nicht ahnten, war die leise Distanz, die Ruetz gleichwohl bewahrte. Nur so konnte er das Gespür für den moment décisif, wie Henri Cartier-Bresson ihn genannt hat, entwickeln – jene Hundertstelsekunde, da ein zufälliges Bild zu Geschichte gerinnt, wie nicht zuvor und nicht mehr danach. "Genau und unverwandt hinsehen", schreibt Ruetz am Schluss eines seiner vielen Bücher: "Darauf kommt es an." Am Montag ist Michael Ruetz 84-jährig in Berlin gestorben.