Berlinale-Film "Architecton"

Die brutale Schönheit der Bilder

"Architecton", Filmstill, 2024
Foto: © 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari

"Architecton", Filmstill, 2024

Fast sicher wird dieses Werk einen Bären gewinnen: Der Essayfilm "Architecton" erzählt von Natur, Raubbau, Beton, guter und schlechter Architektur. Er trifft nicht nur den Nerv der Zeit, sondern ist auch formal etwas sehr Besonderes

Diese Bilder werden von der Berlinale garantiert bleiben: Irgendwo in den Bergen ruckelt es im Gestein. Steine werden zu Geröll, Felsen zerbrechen, eine Lawine entsteht, eine wabernde Masse aus Granitbrocken und Erdreich stürzt eine gefühlte Ewigkeit lang hinab. Ein Sturm aus Steinen, Staub und Erde, der in Zeitlupe den Eindruck erweckt, die Drohne, die das aufgezeichnet hat, würde im All durch einen Asteroidengürtel fliegen. Wie filmt man so etwas? Was für schrecklich-schöne Bilder! 

Es gibt viele davon in dem nicht nur atemberaubenden, sondern auch klugen Film "Architecton" von Victor Kossakovsky, dem zweiten nicht-fiktionale Wettbewerbsbeitrag neben "Dahomey" – und definitiv dem stärkeren der beiden Filme. (Fast) mit Sicherheit wird der Essayfilm über Natur, Raubbau, Beton, gute und schlechte Architektur und nicht zuletzt über die notwendige Neuorientierung der Menschen einen Bären gewinnen.

Das Werk kommt ohne Off-Kommentar und mit sehr wenigen Worten aus. Der Schwerpunkt liegt ohnehin auf Naturaufnahmen, auf Bildern antiker Ruinen und moderner Architektur. Auf ungewöhnliche Art ist der Film dennoch auch das Porträt eines Architekten, des Italieners Michele De Lucchi, der die Tempelanlagen im libanesischen Baalbek besucht und in seinem Garten in der Lombardei einen Steinkreis anlegen lässt, dessen Inneres fortan kein Mensch mehr betreten soll.

Unberührte Natur mitten in der Stadt

Der ungestörte Wildwuchs inmitten des Zirkels führt zum Ursprungsgedanken von "Architecton". Kossakovsky – der Regisseur des Encounter-Films "Gunda" von 2020 über ein Schwein – wurde 1961 in St. Petersburg (damals noch Leningrad) geboren, einer für ihre Architektur berühmten Stadt. Seit einigen Jahren lebt er in Berlin. Er ist fasziniert vom Tempelhofer Feld, einer riesigen Fläche, die nach dem Willen der Bürger nicht bebaut werden soll.

Es wäre großartig, wenn es so bliebe, findet Kossakovsky, der bekannte Architekten fragte, was sie auf dem Tempelhofer Feld bauen würden, wenn sie könnten. Die einzige brauchbare Antwort gab Michele De Lucchi: Nicht einmal Kartoffeln anbauen sollten die Berliner auf dem Areal, ihre Kinder dort nicht spielen lassen und nicht spazierengehen. Das Tempelhofer Feld, so der Architekt, solle ein symbolischer Ort werden, unberührte Natur mitten in der Stadt.

"Architecton" – gemeint ist der Chef und Mastermind der Architekten, vielleicht auch der Schöpfer des Universums – endet (dann doch) mit einem Gespräch zwischen Kossakovsky und De Lucchi, in dem der italienische Architekt seine Beschämung darüber äußert, so viele Wolkenkratzer in die Welt gesetzt zu haben. Beton ist nach dem Wasser das Material, das Menschen am zweithäufigsten einsetzen, wie wir erfahren.. Und: Betonbauten stehen maximal 40 Jahre, danach werden sie abgerissen. 

"Ich hasse Beton"

Einige Säulen in Baalbek stehen immer noch, die Tempelanlagen sind das Gegenbild zur Ressourcenverschwendung unserer Zeit. Gezeigt werden aber auch Burgenreste und Steinbögen, die noch zwei Jahrtausende älter sind. Von Natur überwucherte Bauwerke, die mit einer Schwarz-Weiß-Infrarotkamera gefilmt wurden. Bilder, die sich von den restlichen Farbaufnahmen des Films absetzen.

Ansonsten zieht sich eine Spur der Verwüstung durch das Werk, angefangen mit Drohnenflügen durch von Putins Raketen verheerte Siedlungen in der Ukraine. Bagger reißen Reste der schlecht gebauten Wohnhäuser in der Region Kahramanmaras in der Türkei ab, die vor einem Jahr von einem heftigen Erdbeben zerstört wurde. Und wir sehen Sprengungen in einem Abbaugebiet, dessen Terrassenstruktur wie eine Anti-Architektur erscheint. 

In einer Steinmühle werden riesige Brocken zermahlen, zum körnigen Material, das für Beton gebraucht wird. "Ich hasse Beton", sagt Michele De Lucchi, der Architekt, der ein Umdenken fordert, einen radikalen Paradigmenwechsel im Verhältnis Mensch und Umwelt. "Architecton" trifft den Nerv der Zeit. Ebenso wichtig: Der Film trifft mit der brutalen Schönheit seiner Bilder, unterstützt von der Musik Evgueni Galperines' und dem Sounddesign von Alexander Dudarev. Ein starkes Werk in einem bisher sonst nicht aufregenden Berlinale-Wettbewerb.