In diesem Jahr wurde viel über die sogenannte "Cancel Culture" diskutiert, also über das Abstrafen kontroverser Persönlichkeiten und Meinungen durch die Verbannung aus dem öffentlichen Diskurs. Geht man allerdings von den Grundbedeutungen des englischen Verbs to cancel aus, also "absagen", "stornieren", oder "streichen", dann war das Jahr 2020 ganz im Gegenteil ziemlich cancel-faul. Trotz der Corona-Pandemie und den darauf folgenden Teil- und Voll-Lockdowns im Kultursektor wurde erstaunlich wenig abgesagt.
Stattdessen etablierte sich eine "Postpone Culture", eine Kultur des Verschiebens, die stets den Eindruck des Aktivseins in der Krise suggerieren und ein Gefühl der Hoffnung auf bessere Zeiten verbreiten sollte. So wurde beispielsweise die Art Cologne zuerst von Ende April in den November verlegt, um dann angesichts der wieder herbstlich verschärften Corona-Lage mit konkretem Datum ins Frühjahr 2021 zu wandern. Die bislang ausgewählten Galerien müssen dann entscheiden, ob sie wieder teilnehmen wollen, einiges vom Programm wird mitgenommen, aber zumeist werden die Aussteller doch ganz andere Kunst zeigen als fürs vergangene Frühjahr geplant.
Faktisch ist die Art Cologne 2020 also ausgefallen - ohne, dass dies so kommuniziert wurde. "Umso wichtiger ist es, dass wir mit der Verschiebung in den April neue Perspektiven für alle Beteiligten schaffen können", heißt es in einer Mitteilung von Ende Oktober. Dieses framing der verheißungsvollen Zukunft klingt ähnlich zwangsoptimistisch wie eine Modeformulierung für Unterbeschäftigung. Man ist nicht arbeitslos, in einer Leistungsgesellschaft ist man inbetween jobs.
An den verschiedenen Facetten des Verschiebens lässt sich die Widersprüchlichkeit des Corona-Jahres ziemlich gut beleuchten. Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für Entscheidungen und Handlungen wurde so zentral, dass immer wieder der antike Gott Kairós bemüht wurde, der in der griechischen Mythologie für gutes Timing zuständig ist. Natürlich ist der Umgang mit Kulturveranstaltungen in der Krise an andere politische Entscheidungen gekoppelt. Ab wann ist die Maskenpflicht geboten, lässt sich ein harter Lockdown noch aufschieben? Ist es schon zu spät? Doch am Kultursektor lässt sich gut ablesen, wie sich die öffentliche Einstellung gegenüber dem Verschieben und "Canceln" des öffentlichen Lebens verändert hat. Im April wurde die Absage der Ruhrtriennale im Spätsommer noch als "verfrüht" kritisiert, während später im Jahr Messen und Festivals dafür angegangen wurden, zu lange an ihren geplanten Terminen zu klammern, obwohl schon abzusehen war, dass Großevents auch mit Hygienekonzept unmöglich sein würden.
Als müsse man ein komplettes Jahr nachholen
Es ist das Dilemma dieses Kultur-Jahres, dass Institutionen gleichzeitig die Gesundheit ihrer Besucher schützen und so viel wie möglich vom lange geplanten Programm realisieren wollten - mit allen Verpflichtungen gegenüber Mitarbeitenden, Künstlerinnen und Leihgebern. Verschieben ist im logistikintensiven internationalen Kunstbetrieb immer eine Mammutaufgabe, und Geld ist natürlich auch im Spiel.
Nun sind die Kunsthäuser zum Jonglieren gezwungen, und die Ausstellungkalender ähneln seit dem Frühjahr 2020 Werken der spekulativen Fiktion. Die gleichen Schauen tauchen wie Gestaltenwandler immer wieder in neuen Zeitrahmen auf. Es kursieren neue hoffnungsvolle Anfangsdaten, und es enden Dinge, die nie begonnen haben. Alle Angaben ohne Gewähr. Während man im März zu Beginn der Pandemie noch dachte, dass eine Verschiebung einer Ausstellung in den April 2021 ziemlich großzügig sei, ist dieser Termin Stand heute keineswegs sicher. Spätestens als die Architekturbiennale in Venedig zuerst verkürzt und dann ins Frühjahr 2021 umgezogen wurde, manifestierte sich die Einsicht, dass sich die verschobene Realität nicht so schnell zurechtrücken würde. Die Kunstbiennale 2021 wird nun erst 2022 stattfinden. Die Normalität in der Kunst ist ziemlich langfristig vertagt - zuweilen fühlte es sich an, als müsste man das komplette Jahr 2020 nachholen.
Dass beim wiederholten Verschieben Dinge wegfallen, ist zwangsläufig. Wenn beispielsweise zugesagte Aufenthaltstipendien in die Post-Corona-Zukunft verlegt werden, fehlt dieser Zeitraum für anderen Bewerberinnen. Verschobene Ausstellungen verhindern letztlich neue. So zwingt das Jahr der "Postpone Culture" auch zur Reflexion über endliche Ressourcen der Kultur.
Durch Verschiebung Zeit erkauft
Dass Verschieben auch dezidiert politisch sein kann, zeigte die Debatte um die Wanderausstellung des US-Malers Philip Guston. Die Retrospektive, die von der National Gallery in Washington, dem Museum of Fine Arts in Boston, der Tate Modern in London und dem Museum of Fine Arts in Houston organisiert wird, wurde zuerst von 2020 auf 2024 verlegt, um dann wieder ins Jahr 2022 vorgezogen zu werden. Die Frage, ob man in Zeiten der "Black Lives Matter"-Proteste die Ku-Klux-Klan-Gemälde eines weißen, jüdischen Künstler zeigen soll, erhitzte die Kunst-Gemüter. Der zweifellos antirassistischen Absicht Gustons stand die Auffassung gegenüber, dass es im derzeitigen politischen Klima nicht noch einen weißen Künstler brauche, der dem Publikum Rassismus erklärt - noch dazu in Museen, die in überwältigendem Maße von Weißen geprägt sind.
Mit der Verschiebung haben sich die Institutionen Zeit zur Selbstbespiegelung erkauft. Etwas polemischer könnte man auch unterstellen, dass die Verantwortlichen darauf hoffen, dass sich die politische Betriebstemperatur bis 2022 etwas abkühlt. Und dass die Verschiebung Philip Guston auch ohne tiefgreifende Veränderungen im Kunstsystem (die wären in so kurzer Zeit ziemlich utopisch) vor dem "Gecanceltwerden" bewahrt.
Wenn Verschiebung Fakten schafft
Tatsächlich haben sich durch die Corona-bedingte Unzuverlässigkeit von Plänen einige Debatten einfach erledigt. Im Sommer musste der Kunstverein Hannover entscheiden, ob er eine Ausstellung des Künstlers Jon Rafman zeigen soll, obwohl dem Kanadier von mehreren Frauen übergriffiges Verhalten vorgeworfen wurde. Die Direktorin ließ sich auf Bitten Rafmans auf eine Verschiebung der Schau ein, bis die Vorwürfe geprüft seien. Kriterien dafür, unter welchen Umständen sie stattfinden und wann sie abzusagen wäre, nannte sie im Monopol-Interview jedoch nicht. Durch die Schließung aller Kunsthäuser hat sich diese Frage vorerst erledigt, und überwältigendes öffentliches Interesse scheint es auch nicht mehr zu geben.
Die Absage der Ruhr-Triennale beendete wiederum die Debatte darüber, ob man den kamerunischen Historiker Achille Mbembe wegen Vorwürfen des Antisemitismus und vermeintlicher Nähe zur israelkritischen Bewegung BDS als Redner wieder ausladen müsse. Allerdings nur vorerst, wie es aussieht. Denn nun kocht die Frage in den offenen Briefen wieder hoch, in denen sich Kulturschaffende und Institutionen gegen die Resolution der Bundesregierung gewandt haben; diese stuft BDS als antisemitisch ein.
Es wird sich also erst zeigen, welche Themen und Ereignisse im Jahr der Verschiebung tatsächlich nur vertagt wurden. Und welche faktisch doch "gecancelt" sind.