Die Ideen-Kolumne

Ungelegte Eier (15)

Monopol-Kolumnist Friedrich von Borries hat nach einer Corona-Pause wieder Gäste zum Essen und Diskutieren eingeladen: Kommunikationsstrategin Silke Neumann, Dichterin Daniela Seel, Architekt Roger Bundschuh

Nach meiner selbstauferlegten Corona-Pause endlich mal wieder eine Runde "ungelegte Eier" bei mir zu Hause in Berlin. Wie bei jedem der Essen das gleiche Ritual, erst eine Vorstellungsrunde, dann die Präsentation der ungelegten Eier und dann sehen, was kommt. Dazwischen essen und trinken.

Diesmal nur drei Gäste, die dafür mit Abstand um den Esstisch platziert werden konnten: Silke Neumann, Daniela Seel und Roger Bundschuh. Silke Neumann ist Spezialistin für Kulturkommunikation, mit ihrer Agentur Bureau N unterstützt sie Akteure der kulturellen Szene bei der Vermittlung ihrer Projekte, aktuell zum Beispiel das Berliner Gallery Weekend.

Daniela Seel ist Dichterin, Übersetzerin und Verlegerin, der von ihr gegründete Verlag kookbooks erhielt letztes Jahr den Spitzenpreis beim 1. Deutschen Verlagspreis, sie selbst wurde gerade ins Kuratorium des Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main berufen.

Und Roger Bundschuh ist Architekt, jüngst eröffnete das von ihm gebaute "Suhrkamp-Haus" in Berlin-Mitte.

Jeder hatte ein Ei mitgebracht, und hier und da schimmerte – direkt oder indirekt – die Existenz von Covid-19 durch. Das Ei von Silke Neumann ist, so sagte sie, "schon halb geschlüpft". Ihr gehe es um die Berliner Kunstszene, wie man dem "Sammler-Bashing" entgegenwirkt, wie man den Zugang zu Kunst demokratisiert, also unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen die Teilhabe an Kunst ermöglicht und so mehr Verständnis für Kunst erzeugt.

Dazu gehört – auch, aber nicht nur vor dem Hintergrund von Covid-19 –, digitale Formen von Kunst zu stärken. Ich glaube, in anderen Zeiten hätten wir uns gestritten, was der richtige Weg ist, Kunst zu fördern, welche Rolle der Markt spielt und welche die öffentliche Hand, hätten unsere Ansichten, warum in Berlin schon so viele Formate für Kunstmessen und Ähnliches gescheitert sind, ausgetauscht – aber wir stritten nicht. Warum? Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass anderes gerade wichtiger erscheint.

Dieses "Andere" schimmerte auch bei Roger Bundschuh durch. Fast als Witz, oder zumindest als Kuriosität, berichtete er, dass sein Büro ein Stadtviertel in Wuhan geplant hat und die chinesischen Partner, so Roger, hätten mitgeteilt, dass es nun wieder losgehe. Rückblickend ärgere ich mich, dass ich da nicht gleich nachgefragt habe, ob sich für ihn durch Corona das Bild von der Stadt Wuhan geändert habe – oder ob alles so weitergeht wie bisher. Ich werde ihn das das nächste Mal fragen.

Aber Roger Bundschuh hatte zwei andere Eier dabei, das Stadtviertel in Wuhan war nur eine Randbemerkung. Sein eines Ei ist ein Wunsch, eine Sehnsucht, die, wie er sagte, "einer kleinen kreativen Krise" entspringe. Er vermisse den narrativen Aspekt in der zeitgenössischen Architektur, alles sei, so Roger Bundschuh, "utilitaristisch", die Nüchternheit der Moderne langweile ihn und er habe eine Sehnsucht nach dem klassizistischen Landschaftsgarten.

Das diskutierten wir nicht aus, denn Roger Bundschuh hatte noch ein anderes Ei dabei, das Rendering eines kleinen Hauses, das er mit dem Künstler Thomas Bayrle für die Insel Fogo entworfen hat, einen fast mystischen Ort mit abenteuerlicher Landschaft in Neufundland, Kanada. Seit einigen Jahren vergibt die dortige Shorefast Foundation zur Belebung und nachhaltigen Entwicklung dieser weltabgelegenen Insel Aufenthaltsstipendien an Künstler*innen. Der Entwurf für ein Drei-Raum-Haus von Bundschuh und Bayrle ist eine Hommage an die Heuschober von Monet, eine horizontal geschichtete, leichte Struktur, durch die viel Licht dringt.

Aber Roger Bundschuh ist sich unsicher, ob sich durch Covid-19 die Sehnsucht nach dem Ländlichem, nach der Einsamkeit in der Natur verstärken oder abschwächen wird. Wir diskutierten, ob die Zivilisationsflucht ein Zukunftsmodell ist oder die Globalisierung an ihr Ende gelangt ist – nicht nur wegen der mit Covid-19 einhergehenden Reisebeschränkungen und Quarantäne-Reglungen, sondern auch wegen des Klimawandels. Und so steht die wehmütige Vorstellung im Raum, dass es derartige Stipendien vielleicht bald nicht mehr geben wird.

Daniela Seel, die Lyrikerin, kann, wie sie sagte, an Roger Bundschuh "direkt anknüpfen", denn ihr Ei hatte auch mit Landschaft zu tun. Sie hatte ein Gedicht mitgebracht, an dem sie arbeitet und das sie uns vorlas. Unfertiges vorzulesen sei, so berichtete sie, ein in der Lyrik-Szene ganz übliches Vorgehen.

Es handelt von der Vertreibung aus dem Paradies oder, wie sie es nannte, dem "Auszug aus Eden", weil, so ihre feministische These, Eva vorsätzlich das Paradies habe verlassen wollen, um zu erfahren, welcher Raum, welche Zeit jenseits des Paradieses liegt, in der Sterblichkeit.

Sie berichtete von ihrer Auseinandersetzung mit der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig aus den 1920er-Jahren, die in einer radikalen Sprache andere Auslegungen vornehmen als Martin Luther und so neue Perspektiven eröffnen.

Wo Luther im Buch Kohelet von "Zeit" spricht, so Daniela Seel, sprechen Buber und Rosenzweig von "Frist", also etwas Endlichem. Sie berichtete von der "Unbarmherzigkeit des Gartens", in dem "Kraut" von "Unkraut" geschieden wird, und spricht über die "Barmherzigkeit der Steine".

Wir redeten über Rom und über Gläubigkeit, über das Verhältnis von Sprachvorstellungen zu Landschaftsvorstellungen, über den Schöpfungsmythos, und dass, wie Roger Bundschuh meinte, "die ganze Architekturgeschichte auf religiösen Erzählungen fußt". 

Wir redeten aber auch über Liberalismus, Fördergremien und Stipendien, über das Ausmisten und Aufräumen in Zeiten, in denen man viel zu Hause ist, diskutieren, ob Konsens zu guter Kunstförderung führt, und wir wunderten uns über Stipendien, bei denen die Empfänger*innen nicht nach Qualität ausgesucht, sondern ausgelost werden. Und dann, als die Gäste schon an der Tür standen, redeten wir nochmal über Covid-19, über die unheimlichen Demonstrationen, bei denen sich Hippies mit Neonazis zusammentun.

Wir verabschiedeten uns mit Ellenbogen-Check, und so ging ein Nachmittag zu Ende, der von Covid-19 zum Paradies führte und wieder zurück. Zumindest in meinem Kopf. Die letzte Notiz auf meinem Zettel lautet: "Am Ende ... Schmerz … das alle Gewissheiten okkupiert werden …"