Es ist ja immer so eine Sache, was man selbst fotografiert, wenn sowieso alle fotografieren. Unangenehm wird es maximal im Urlaub, weil man zumindest Bilder als Erinnerungen mit nach Hause nehmen möchte, denn mehr bleibt einem nicht nach zehn Tagen Abhängen am Strand und Ablaufen der Sehenswürdigkeiten. In die Familien-WhatsApp-Gruppe, die schmerzfreie Zone, was Peinlichkeiten angeht, kann man hineinposten, was man möchte. Besonders Mama freut sich eh über alles, was von den Kindern kommt, auch über 20 Selfies mit dem Boyfriend vor diversen Sehenswürdigkeiten. Den Freunden auf Instagram kann man das nicht antun und sich selbst noch weniger.
Beruhigend ist zu wissen, dass Teenager laut der "New York Times" offenbar so etwas wie ungeschriebene Gesetze haben, was den Social-Media-Output angeht. Selfies dürfen sexy, aber nicht zu sexy sein. Vorsicht mit Urlaubsfotos, nicht angeben und keine Fotos aus dem fancy Hotel posten. Partyfotos sind okay, aber nicht zu viele, es soll sich niemand ausgeschlossen fühlen.
Und dann wünscht man sich, während man durch Instagram scrollt, dass jemand die Dauerwerbesendung der so genannten Influencer ausschaltet und sie mit Siebtklässlern in einen Raum sperrt, damit die ihnen erklären, was so alles überhaupt nicht cool ist. Influencer sind Reklametafeln auf zwei Beinen, die dafür bezahlt werden, dass sie angeben: mein Urlaub, mein Luxushotel, meine geile Karre, die ich gerade für viel Geld fotografiere. Laut den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage ist es allerdings nur zu verständlich, dass Reiseunternehmen, Fluglinien, Hotels und Stadtmarketing auf Influencer setzen, denn 40,1 Prozent der befragten britischen Millienials, also Erwachsene zwischen 18 und 33 Jahren, gaben als Hauptgrund für die Wahl des Urlaubsziels an: Instagrammable muss es sein.
Das alles ist gut zu wissen, wenn man dem nigerianisch-amerikanischen Schriftsteller Teju Cole auf Instagram folgt. Für das Magazin der "New York Times" schreibt er eine Kolumne über Fotografie, er ist aber auch selbst Fotograf – gerade ist sein erstes Fotobuch "Blind Spot" erschienen, sein insgesamt viertes Buch. Wer ihm auf Instagram schon etwas länger folgt, hat beim Blättern und Lesen ganz sicher ein Déjà-vu-Erlebnis.
Normalerweise muss sich ein Autor oder Fotograf nur mit den Arbeiten der anerkannten Kollegen vergleichen und im besten Fall in eine Reihe stellen lassen. Teju Cole nutzt das soziale Fotonetzwerk Instagram, um an Büchern, Ausstellungen, Theorien und Gedanken zu arbeiten, es ist für ihn Notizbuch und Tagebuch zugleich. Er postet mehr, als am Ende stehen bleibt, er hängt gewissermaßen Bilder auf und wieder ab, probiert aus, ob ein Bild allein und mit anderen funktioniert, er schreibt, teilt, löscht und das mehrmals täglich. "River of images", Bilderstrom steht seit ein paar Wochen in seiner Profilbeschreibung. Seine Bilder fließen in einen sehr viel größeren Strom, täglich werden 95 Millionen Beiträge allein auf Instagram geteilt.
2015 tauchte er tiefer ein und suchte nach Fotos, die Menschen an touristischen Hotspots machen. Denn ihm ist passiert, was sicherlich jedem schon einmal aufgefallen ist, der etwas mehr Zeit auf Instagram verbringt oder herauszufinden versucht, was man anstellen muss, damit es mit den Likes und Followern klappt. Und zum Lachen ist das tatsächlich.
Teju Cole war im Pantheon in Rom, hat dort ein Foto gemacht und als er sich zu Hause die Ergebnisse ansah, fiel ihm auf, dass seine Bilder sich nicht von den Massen unterscheiden, die dort jeden Tag entstehen und in den Sozialen Medien geteilt werden. Das hat einfache Gründe wie Leitsysteme für Touristen, Aussichtspunkte mit vorgegebenen Fotospots oder Sicherheitsvorkehrungen wie bei der Mona Lisa. Wer trotz Verbot blitzt, hat eine unsexy Reflektion auf der Scheibe, die das Gemälde schützt, wer an einem gut besuchten Tag im Louvre ist, kommt kaum bis ganz nach vorne durch und hat viele Hände, viele Kameras und viele Köpfe im Bild – Martin Parr oder Thomas Struth machen daraus Kunst. Und wer es bis nach vorn schafft, hat dann eben viel Wand und wenig Mona Lisa, aber Hauptsache ein eigenes Foto, das geteilt werden kann. Instagram, die Toilettenwand für alle Ich-war-hier-Schreiber. Entweder nehmen einem also äußere Umstände die Entscheidung ab, welches Foto gemacht wird oder es wird sich bewusst dafür entschieden, das instagrammigste Foto, weil schon 7589 Mal gesehen, schnell auch noch einzusammeln. Instagram ist ein bisschen wie Pokémon Go oder früher Panini-Sammelalben, nur eben zum Selbermachen. Der Drops Originalität ist gelutscht.
Teju Cole hat auf Instagram einige Monate über das kollektive Sehen nachgedacht, über das "Augenzusammengehörigkeitsgefühl", wie er schrieb, und darüber, dass die Fotografie zeigt, wie ähnlich wir alle sehen, bis er sich schließlich nur noch mit seinen eigenen Arbeiten befasste. Zuerst war das "Blind Spot", später kam "Black Paper" hinzu. Deshalb kann man das soziale Fotonetzwerk nicht einfach außen vorlassen, wenn man sich mit dem Fotobuch befasst und sagen, ein Buch ist ein Buch, das Medium kennen wir seit circa 1450, das nehmen wir ernst, das andere ist Instakram, Selfie zu Selfie, weg damit, bitte schnell.
Teju Cole selbst nämlich denkt in Projekten, und Projekte können verschiedene Formen haben. "Blind Spot" lebt, wie er sagt, auf Instagram, in Galerien und im Buch. Und wahrscheinlich habe ich mich deshalb selten so sehr auf das Erscheinen eines Buches gefreut, wie jetzt, weil man schon so lange zusehen konnte, wie dieses Projekt wächst. Vor gut einem Jahr ist es bereits auf Italienisch unter dem Titel "Punto d'Ombra" erschienen, nächstes Jahr kommt es auf Deutsch.
"Blind Spot", so beschreibt es Cole selbst, "handelt davon, was man alles nicht sieht, wenn man ins Helle schaut, und 'Black Paper' davon, was man alles sieht, wenn man in die Dunkelheit starrt." Teju Cole hat die Geschichte der Fotografie eingeatmet und atmet sie in seinem Fotobuch wieder aus. Was man zuerst sieht, sind seine Einflüsse: Joachim Brohm, Stephen Shore, Guido Guidi und allen voran Luigi Ghirri. Cole fotografiert das Unaufgeregte, das Leise, die Leere. Er fotografiert das, was für Millenials alles ist, nur nicht instagrammable. "Blind Spot" ist vielleicht am besten als ein Versuch der intellektuellen Vermessung der Welt beschrieben.
150 Fotografien hat er für das Buch ausgewählt. Auf der rechten Seite steht die Fotografie, auf der linken Seite ein kurzer Text, darüber ist der Ort vermerkt, wo beide entstanden sind. Basel, Brooklyn, Tivoli, Lagos, Zürich, Rom, Venedig, Chicago, Nürnberg, London, Paris, Palm Beach, um nur einige wenige der von ihm bereisten Orte zu erwähnen. Cole ist als Tourist unterwegs, sucht aber überall nach dem, was Touristen übersehen, weil sie schon zu genau wissen, wonach sie Ausschau halten: nach der nächsten Sehenswürdigkeit. "Es scheint schlechterdings unnatürlich, zum Vergnügen zu reisen, ohne eine Kamera mitzunehmen. Fotos sollen den unwiderleglichen Beweis liefern, dass man eine Reise unternommen, das Programm durchgestanden und dabei seinen Spaß gehabt hat. Fotografien dokumentieren Konsumakte, die außerhalb der Reichweite der Familie, der Freunde und der Nachbarn vollzogen werden." Das hat Susan Sontag in ihrem Band "Über Fotografie" geschrieben. Teju Cole hat ab und an wenig Spaß auf Reisen mit seiner Kamera im Gepäck. Das weiß, wer ihm auf Instagram sehr aufmerksam folgt und seine persönlichen Postings liest, bevor er sie vielleicht wieder löscht. So eine Kamera ist schwer, so eine Kamera verursacht Schmerzen in der Schulter. Aber das ist ein anderes Thema.
Fomo (fear of missing out), oversharing, too much information, so sehen Reisen, nein eigentlich das Leben heute in den Sozialen Medien aus. Teju Cole hat vermutlich nur vor einem Angst: vor dem Verlust der Komplexität. Seine Fotografien in Kombination mit Texten dokumentieren seine Gedankengänge und Sehgewohnheiten, er kombiniert, was ihm in den Sinn kommt. Im Buch beschreibt er beispielsweise, wie er in New York einer Frau folgt, um ein Foto von ihr zu machen. Er verliert sie recht bald in der Menschenmenge. Auf Instagram nenne man die Leute, die sehen, was man selbst gesehen hat, Follower.
Nächste Seite, Ortswechsel: Paris. Er erinnert sich an eine Geschichte über Sophie Calle. Im April 1981 habe Sophie Calles Mutter einen Privatdetektiv angeheuert, der ihrer Tochter folgen, Fotos machen und von ihren täglichen Aktivitäten berichten sollte. Was der Privatdetektiv nicht wusste: Sophie Calle hat selbst dafür gesorgt und gezahlt, damit er ihr folgt. Während also der Privatdetektiv dachte, er wisse am meisten, wusste er eigentlich am wenigsten.
Es ist schön, Teju Cole beim Denken und Sehen folgen zu können. Auch wenn man beim Blättern nicht immer so genau weiß, wo man nach Verbindungslinie dieses lyrischen Essays suchen soll, wie er sein Buch selbst beschreibt. Aber darauf setzt Cole natürlich: auf ein Zuviel und Zuwenig an Information und darauf, dass der Leser sich mit den Texten und Bildern auseinandersetzt. Auf Fomo beim Lesen. Und Sehen des von ihm Gesehenen. "Die Fotos erwecken hoffentlich den Eindruck, dass man durch die Augen einer anderen Person sieht", sagt er.
Und dann ist da bei Cole noch die geschlossene Kommentarfunktion. Instagram machte es möglich, und er schloss bei sich den Kommentarbereich. Er wundert sich, warum nicht mehr Nutzer das Bedürfnis nach mehr Ruhe auf ihrem Kanal haben. Es sei sowieso schon laut genug, sagt er, da brauche es nicht noch mehr Social-Media-Noise. Leicht gesagt, wenn man von Beruf Kritiker, Schriftsteller, Fotograf, alles nur eben nicht Vollzeit- oder Nebenerwerbs-Influencer ist, denn deren Wert bemisst sich maßgeblich am Engagement. Cole jedenfalls möchte jedem Follower das Gefühl geben, dass nur er oder sie allein das Foto ansieht. Was nur zu verständlich ist, denn wer liest schon gern vollgekritzelte Bücher, selbst wenn es nur Bleistiftanmerkungen oder -unterstreichungen sind. Das wäre auf Instagram vielleicht vergleichbar mit Emojis. Nur passen die oft nicht zum in der Bildunterschrift Geschriebenen, weil: nicht gelesen. "Manchmal möchte ich ein Foto teilen können, das von einem sehr dunklen Ort kommt, ohne dass jemand mit einem Tränen lachenden Emoji kommentiert", sagt er.
Amerika ist für ihn seit Trump ein solcher Ort. Cole verliert nicht viele Worte darüber, er macht Bilder. Seiner neuen Serie "Black Paper" sieht man die Trauer, Leere und Verzweiflung an. Amerika ist ein dunkler Ort in diesen Tagen, aber auch in dieser Dunkelheit ist etwas zu sehen, das zeigt Cole. Vielleicht sogar ein wenig Hoffnung.