Der Augartenpark in Graz lädt gerade im Spätsommer zum erholsamen Verweilen ein - dass da aber 40 Menschen kauernd auf dem Boden versunken sind, das verwundert spätestens auf dem zweiten Blick. Plötzlich springen diese sorgsam choreografierten "Living Sculptures" auf, verteilen sich auf der hügeligen Wiese, um dann langsam auf zufällig vorbeikommende Parkbesucher zuzugehen. Diese bekommen dann eine kurze Geschichte erzählt, eine über eine gelungene Geburtstagsfeier, oder eine über eine Urlaubsreise nach Moldawien zum Beispiel, persönlich und ein wenig sentimental sind all diese überaus höflich gemachten Gesprächsangebote.
Die von Tino Seghal initiierte "Situation" (2021) am Eröffnungswochenende des Steirischen Herbstes bringt wesentliche Fragen auf den Punkt, die sich immer dann stellen, wenn Kunst versucht, die Blase ihres eigenen Betriebssystems zu verlassen, um endlich nicht nur die better educated people mehr oder weniger "gehobener" Klassen anzusprechen: Wie viel (stilisierende) Ästhetik braucht sie? Wie alltäglich und populär darf sie sich im öffentlichen Raum geben? Welche Form von Partizipation ergeben hier Sinn, oder bedarf es einer solchen aktiven Teilhabe vielleicht überhaupt nicht?
Thomas Hirschhorn beantwortet solche Fragen auf die für ihn typische Art und Weise. Sein so trashiges wie gefühlsbetontes "Simone Weil Memorial"(2021) kurz vor dem Grazer Bahnhof wagt den Spagat zwischen kitschig-populärer Gedenkkultur, wie wir sie etwa von den "Altären" kennen, die nach dem Tod von Celebrities wie Lady Diana errichtet werden, und gesellschaftskritischer Philosophie. Niedliche Plüschtiere, Tiger und Bären vor allem, liegen da neben auf in Plastik eingeschweißten Pappen, auf denen zuweilen recht naive Liebesbekundungen wie "Ich liebe Simone Weil, weil sie gearbeitet hat" oder "Ich liebe Simone Weil sie immer Akteurin war" mit der Hand geschrieben sind. Daneben ist jeweils ein Foto der französischen Philosophin und Aktivistin geklebt.
Eine "sentimentale Erziehung" à la Flaubert
Auf anderen, größeren Pappen sind eher anspruchsvolle Auszüge aus Weils Textsammlung "Schwerkraft und Gnade", 1947, zu lesen. Eine kleine "Simone Weil-Bücherei" mit ausleihbaren Schriften von und zu der Autorin bietet die Option, sich näher mit Weil und ihrem Werk zu beschäftigen. So unternimmt Thomas Hirschhorn hier mitten auf dem Gehweg eine "sentimentale Erziehung" (Flaubert), der eine politische Aufklärung gelingt, die linkspopulistisch und klug zugleich ist.
Auch Marinella Senatores Lichtinstallation "Assembly", 2021, zitiert Populärkultur, erinnert sie doch nicht von ungefähr an farbenprächtige Lichtdekorationen, die besonders in den Mittelmeerländern an (religiösen) Feiertagen Dorfplätze und ähnliches verschönern, auf Jahrmärkten für verführerische Lichteffekte sorgen und auch in der Werbung sowie der Modewelt immer wieder spektakulär eingesetzt werden. Eine barock anmutende, überbordende Ornamentik wird hier auf dem Bahnhofvorplatz von Glühbirnen erleuchtet, zwischen diesem optischen Feuerwerk sind dann aber aktivistische Slogans von der Künstlerin gleichsam eingeschmuggelt: "I want a name like fire, like revolution." Auf Optionen der Partizipation verzichtet Marinella Senatore, dafür aber setzt sie auf die auffordernde Kraft ihrer Sätze und Zitate, die sich da gerade mit Hilfe der im doppelten Sinne des Wortes "einleuchtenden" Lichtdekoration entwickelt.
Der Steirische Herbst zeigt aber auch ein Problem auf, das die Absage an die elaborierten Standards der "High Art" mit sich bringen kann, nämlich den Ausverkauf der Kunst an bloßen Pop. Ein gutes schlechtes Beispiel hierfür ist die Performance "Radieschen" (2021) der Künstlergruppe G.R.A.M., die nach dem berühmten Beatles-Vorbild aus den 1960er-Jahren ein Konzert auf dem Dach gab. Gleich neben dem Kunsthaus spielte die Gruppe in luftiger Höhe eingängigen Elektropop mit banal-dümmlichen Texten wie "Oh du schmutziges Radieschen, ich liebe dich".
Der Reiz des Widerspruchs
Flaniert wurde der etwa 20 Minuten kurze Auftritt am Rande der Dachbühne mit aufgeblasenen Plastikpuppen, sogenannten "Skydancern", die am Ende symbolträchtig in sich zusammenfielen. Diese Performance aber als Kritik an unserer "Spaßgesellschaft" zu verstehen, wie der Begleittext zur Arbeit nahelegt, fällt schwer. Vor allem deswegen, weil der vermeintlich strategisch eingesetzte Pop hier leider nicht, wie es dagegen vor allem Thomas Hirschhorn gelingt, mit eben den analytisch-kritischen Momenten aufgeladen ist, die gute Kunst dann meist doch zu bieten hat.
Genau dies macht die Qualität des diesjährigen Steirischen Herbstes unter der künstlerischen Leitung von Ekaterina Degot aus: Die Konditionen eines "Raus aus der Kunstblase" werden mit der wohl bewusst widerspruchsvollen Auswahl der Arbeiten ausgetestet. So unterschiedliche Kunst wie die von Hito Steyerl, Hiwa K und Yael Bartana wird dann auch noch bis zum 10. Oktober in Graz präsentiert werden.