Zum ersten Mal aufgefallen ist er ihr 1936 in einem Pariser Café. Simone de Beauvoir beschrieb Giacometti als einen "Herrn mit markantem Gesicht, wirrem, borstigen Haar und neugierigem Blick, den man nachts zu jeder Zeit auf dem Gehsteig antreffen konnte, manchmal allein, manchmal in Begleitung einer wunderschönen Frau. Er schien solide wie ein Fels und gleichzeitig zart." Ob es diese Zartheit war, die sie zehn Jahre später davon überzeugte, ihm als Modell zu stehen? Die Büste, die sich sonst in einer Privatsammlung befindet, kann man jetzt in der Bundeskunsthalle Bonn in Augenschein nehmen. Ein typischer Giacometti-Kopf, dem man sein Geschlecht nicht auf Anhieb ansieht. Dabei geht es in der mit projizierten Zitaten überquellenden Schau "Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht" genau um dieses.
Es gibt nur wenige Bücher, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft verändern können. Beauvoirs 1949 erschiene Studie "Le deuxième sexe" gehört sicherlich dazu. Bei den Zeitgenossen schlug es regelrecht wie eine Bombe ein: Der französische Schriftsteller und spätere Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus etwa zeigte sich empört darüber, dass Beauvoir den französischen Mann lächerlich gemacht hätte. Weil sie über weibliche Sexualität, lesbische Liebe, Abtreibung und die männliche Dominanz schrieb? Wegen entwaffnend kühler, sozialwissenschaftlicher und heute ikonischer Sätze wie: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet"?
Damals waren Äußerungen wie diese sowohl für den Vatikan als auch die Sowjetunion und Franco-Spanien Grund genug, das "skandalöse" Werk auf den Index zu setzen. Für die Frauenbewegung kam der in der Taschenbuchausgabe 900 Seiten dicke Wälzer aber gerade zur rechten Zeit, in den Nachkriegs-Jahrzehnten wurden vermeintliche Gewissheiten in Frage gestellt und einige der diskriminierendsten Gesetze gegen Frauen abgeschafft.
Der Klassiker steht wieder auf dem Podest
Den Feministinnen der Sechziger war das nicht genug. Sie kürten das theoretisch ausgefeilte Buch zu einer programmatischen Bibel. Einige Generationen und die #MeToo-Bewegung später ist es wieder an der Zeit, den Klassiker aufs Podest zu stellen. Dass es in der Bundeskunsthalle eine Frau tun muss, die Intendantin Eva Kraus, und es sich bei der Kuratorin Katharina Chrubasik ebenfalls um eine Frau handelt, zeugt von einem weiterhin vorherrschenden Desinteresse der männlichen Kollegen.
Immerhin, auch ein Big Player wie die Galerie Hauser & Wirth zeigt sich demnächst in Zürich anschlussfähig: Die von Sophie Berrebi kuratierte Gruppenausstellung "Seventy Years of The Second Sex. A Conversation between Works and Word" lässt Künstlerinnen wie Louise Bourgeois, Geta Brătescu, Eva Hesse, Roni Horn, Zoe Leonard, Lee Lozano, Annaïk Lou Pitteloud, Cindy Sherman und Lorna Simpson um das Werk kreisen.
Die älteren Jahrgänge erfahren in Bonn zwar in dem intim ausgeleuchteten Seitentrakt entlang von Video- und Hörstationen nicht viel Neues, können aber im exzellenten Ausstellungsdesign von nachempfundenen Cafés im Paris der frühen 1950er schwelgen, Orientierung in überlebensgroßen Schwarzweiß-Fotos suchen, die Erstausgabe und Beauvoir-Faksimiles begutachten, in Texten blättern und die existenzialistische Atmosphäre des Aufbruchs auf sich wirken lassen - allem voran durch die Jazzmusik eines Miles Davis oder Chansons von Juliette Gréco, die dezent die Räume akzentuieren.
Viele Probleme sind nicht gelöst
Für die Jüngeren ist die Schau, in der selbstverständlich eine Alice Schwarzer im Austausch mit de Beauvoir Anfang der 1970er zu Wort kommt, und in der kein Weg an ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre vorbeiführt, eine Lehrstunde über die Entstehungsbedingungen und die Wirkungsgeschichte eines Thesenwerks, das in China zum ersten Mal erst 2011 erschien.
Auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten der Eindruck einer inzwischen unzeitgemäßen, in Manchem widerlegten historischen Figur entstanden sein mag, sind viele Fragen, die diese Intellektuelle vor 73 Jahren gestellt hat, in den aktuellen Diskussionen immer noch präsent und mitunter auch noch nicht gelöst. Man denke nur an die in den sozialen Medien von Influencerinnen propagierte Rückkehr zu alten Körperbildern, das Fortbestehen des Paragraphen 218, die Benachteiligung der Frauen während der Corona-Pandemie, fortbestehende Gehaltsunterschiede oder zu geringe Präsenz im männerdominierten Politikbetrieb. Simone, übernehmen Sie, möchte man da ausrufen. Und hört man ihre energische Stimme in den wie Zweikämpfe klingenden Interviews, weiß man, sie hätte sich auch heute noch trotz aller Anfeindungen mitten in die Arena gestürzt.