"Im Moment verschwendet jeder von uns jedes Jahr 12 Kilo Kleidung, das ist absolut inakzeptabel," erklärte EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius im Juni 2023 in einem Interview während des Global Fashion Summit in Kopenhagen. Seit 2009 tagt das internationale Forum für Nachhaltigkeit in der Mode regelmäßig, dieses Jahr unter dem Titel: "Ambition to Action" - der Wille zum Handeln.
Schon lange versucht die Mode (mehr oder weniger ambitioniert), ihr schlechtes Image in puncto Nachhaltigkeit aufzubessern. Strategien und Aktionen werden überlegt, angekündigt, aber unzureichend umgesetzt. Und so folgt fast immer ein enttäuschender Ausgang. Ein wirklicher Wandel wird nicht erreicht, da selten die ehrliche Absicht verfolgt wird, etwas zu verbessern. Vielmehr versuchen Konzerne, ihr umweltfeindliches Treiben unter dem Radar weiter laufen zu lassen, finden Schlupflöcher und Grauzonen. Auch, da von Seiten der Politik bisher wenig reguliert wurde. Doch das soll sich innerhalb der nächsten fünf Jahren ändern, wie es das Europäische Parlament wenige Tage vor Sinkevičius Rede beschlossen hat.
"Wenn wir ehrlich sind, ist die Mode die einzige Branche, die sich jeglicher Regulierung entzogen hat", so Sinkevičius. "Aber der Tribut, den sie den natürlichen Ressourcen abverlangt, ist groß… Dieses lineare Modell, in dem Unternehmen heute konkurrieren, bringt uns leider nicht weiter."
Unfassbare Gewinne durch Wegwerf-Mode
Dies ist keine neue Erkenntnis. Seit Jahren fordern Umweltorganisationen und Zusammenschlüsse für fair produzierte Mode ein zirkuläres Wirtschaften. Kleidung dürfe nicht wie ein benutztes Taschentuch behandelt und nach dem Gebrauch weggeschmissen werden. Sie müsse recycelt werden, sodass die Rohstoffe wiederverwendet werden können. So würden T-Shirts, Mäntel und Jeans nicht auf einer der riesigen Müllhalden enden, etwa in der chilenischen Atacama-Wüste, sondern die Basis für neue Kleider bilden. Dieses Ziel verfolgen jedoch nicht alle - vor allem nicht die, die von dem schnelllebigen Schema der Wegwerf-Mode leben und unfassbare Gewinne erwirtschaften.
Einer der größten Profiteure ist Shein. Der 2008 in China gegründete Online-Modekonzern listet jeden Tag etwa 10.000 neue Styles auf seiner Website, und wurde so in den letzten Jahren zu einer der erfolgreichsten Fast-Fashion-Firmen weltweit. 2022 wurde Shein sogar zur beliebtesten Modemarke des Jahres ernannt, in dem Zeitraum soll der Fast-Fashion-Riese 100 Milliarden Euro Umsatz gemacht haben.
Wer von dieser unfassbaren Summe wenig gesehen haben wird, sind die Arbeiterinnen in den sogenannten Sweatshops, die unter menschenunwürdigen Bedingungen Tanktops und Bikinis zusammennähen. Eine Untersuchung des "British News Channel" fand heraus, dass einige Arbeiter genötigt werden, in 18-Stunden-Schichten unfassbare Mengen an Kleidung zu produzieren.
Ein Bild des Schreckens, das dementiert wird
Weitere Ermittlungen von Fernsehsendern und Publikationen entdeckten unsichere Arbeitsplätze ohne Fenster oder Notausgänge, Arbeiter ohne Verträge, denen ihr Lohn oft einfach vorenthalten wurde. Immer wieder werden schädliche Substanzen und gefährliche Chemikalien in Sheins Kleidern entdeckt. Ein Bild des Schreckens, in dem die Umweltschäden noch gar nicht einkalkuliert sind - und das Shein immer wieder dementiert. Im Jahr 2023 auf besonders dreiste Weise.
Fast zeitgleich mit Virginijus Sinkevičius Erklärung, man würde den durch die Mode entstehenden Schaden für Mensch und Umwelt nicht weiter hinnehmen, fluteten Berichte über einen inszenierten Shein-Pressetrip das Internet. Die Marke hatte eine Handvoll Influencer eingeladen, sich ihr "Innovation Center", eine angebliche Fertigungsstätte in Guangzhou, China, anzusehen. Ihre Erlebnisse sollten die Instagram- und TikTok-Persönlichkeiten dokumentieren und darüber berichten, um so die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass hinter den Kulissen alles mit rechten Dingen zugehe.
Die Influencer taten, wofür sie bezahlt wurden – um wenige Momente später zum Gespött des World Wide Web zu werden. Weitläufige, weiße Räumlichkeiten, kein Staubkorn weit und breit, in denen Arbeiter entspannt einzelne Kleidungsstücke zuschneiden, posteten sie auf ihren Kanälen. "Confidence"-Aktivistin Dani Carbonari schrieb dazu: "Ich fühle mich mit meiner Partnerschaft mit Shein sicherer denn je. Es gibt so viele Unternehmen, die nicht die Hälfte der Initiative ergreifen, die Shein ergreift. Sie sind sich jedes einzelnen Gerüchts bewusst, und anstatt zu schweigen, kämpfen sie mit all ihrer Kraft, um uns nicht nur die Wahrheit zu zeigen, sondern sich weiter zu verbessern und das Beste zu geben, was sie sein können." Shein ein Sweatshop? "Sie haben nicht einmal geschwitzt", kommentierte eine Influencerin nach ihrem Besuch bei den angeblichen Arbeitern und Näherinnen.
"Ihr seid Shein, nicht Alexander McQueen"
Täuschen konnten sie die Kritiker des Fast-Fashion-Riesen nicht. Die sterile Heiterkeit des "Innovation Centers" bewirkte das Gegenteil und schürte die Zweifel gegenüber dem intransparenten Unternehmen. "Ich kenne nicht einen Hersteller, der es sich leisten kann, ein Kleidungsstück nach dem anderen zuzuschneiden, nicht mal in China, wo die Löhne niedrig sind. Ihr seid Shein, nicht Alexander McQueen", schrieb X-Userin Susan Bailey zu einer klar inszenierten Szene des "Behind The Scenes"-Trips.
Auch wies Bailey auf fehlende Fluchtweg-Ausschilderung, Erste-Hilfe-Koffer und Feuerlöscher hin. "Ich kann eine inszenierte Fabrik aus einer Meile Entfernung erkennen", kommentierte sie ein Foto der Influencer in einer unglaubwürdig sauberen, neuen Produktionshalle. Eine weitere X-Userin schrieb: "Das Lustigste an dem Shein-Debakel ist für mich, dass die Influencer so tun, als ob sie verdeckt ermitteln würden. Sie waren natürlich eingeladen, das ist PR".
Am stärksten kritisiert wurden die Fake-Dokumentationen über die "desinfizierten" Arbeitsbedingungen, weil journalistisch arbeitende Medien über die Jahre viel riskiert hatten, um die wahren Zustände der Shein-Fabriken einzufangen und so dem Leiden der Arbeiter ein Ende zu setzen. Die Plattform "AJ+" etwa veröffentlichte einen Bericht mit den Erlebnissen einer eingeschleusten Undercover-Arbeiterin. Weniger als 4 Cent habe sie pro hergestelltem Kleidungsstück bekommen, und unterliefe ihr ein Fehler in der Fertigung, seien rund Dreiviertel des Tagelohns abgezogen worden.
Nächstes Ziel: die US-Börse
Unter "Shein-Propaganda-Trip" ist die fehlgeschlagene Kampagne in die Marketing-Geschichtsbücher eingegangen, geschadet hat es dem Unternehmen jedoch nicht. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 vergrößerte sich sein Umsatz um 40 Prozent: ein bisheriger Rekord, der die Fast-Fashion-Konkurrenz H&M und Zara erblassen lässt.
Shein ist mit seinem Konzept der billig produzierten Wegwerf-Trends in den Vereinigten Staaten am erfolgreichsten. Dort soll nun auch der nächste große Schritt des Konzerns geschehen – er will an die Börse. Shein habe einen Antrag auf einen vertraulichen Börsengang gestellt, heißt es in der "Zeit".
Während sich das Marketing des Labels aggressiv auf allen denkbaren Kanälen aufdrängt, bleiben die Drahtzieher mit den wesentlichen Entscheidungen gern unsichtbar. Die vom Unternehmen eingereichten Unterlagen werden also bis kurz vor ihrem Debüt auf dem Handelsparkett von der Börsenaufsicht unter Verschluss gehalten. Schon jetzt aber wird das bevorstehende Ereignis als einer der womöglich größten Börsengänge gehandelt.
Digitaler Produktpass gegen "Greenwashing"
Shein ist nur einer von vielen, auf allen Ebenen schädlichen Fast-Fashion-Anbietern, wenn auch der mächtigste. Doch weiter zusehen, wie mit Billigmode gehandelt wird, möchte das EU-Parlament zukünftig nicht mehr.
Am 1. Juni stimmten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments mehrheitlich Vorschlägen für strengere EU-Maßnahmen zur Eindämmung der übermäßigen Produktion von Textilien zu. Die Europäische Kommission gab bekannt, die europäische Textilbranche bis zum Jahr 2030 in eine nachhaltigere Richtung lenken zu wollen und die Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen.
Als viertgrößter Umweltverschmutzer nach Lebensmitteln, Wohnraum und Verkehr solle der Textilverbrauch in Europa in ein nachhaltigeres Modell umgewandelt werden. Die Kommission arbeite an mehr als 16 Gesetzesentwürfen, die Konzerne dazu drängen sollen, Verantwortung für ihre umweltschädlichen Praktiken zu übernehmen. Als "Herausforderung" für die schnelllebigen Modemarken wurde der neue Ansatz beschrieben. Von ihnen soll verlangt werden, Textilabfälle zu sammeln, die einem bestimmten Prozentsatz ihrer Produktion entsprechen oder eine Gebühr für die Müllabfuhr der lokalen Behörde zu entrichten. Der Beitrag soll alle paar Jahre schrittweise erhöht werden.
"Die EU muss Hersteller und große Modeunternehmen verpflichten"
Ein weiterer Beschluss: Das Vernichten fabrikneuer Textilien oder Schuhe soll in Europa weitgehend verboten werden. Um "Greenwashing" und das Täuschen wohlwollender Verbraucher zu unterbinden, fordert die Kommission zudem einen digitalen Produktpass mit "verbindlichen Informationsanforderungen über kreislauffähige Produkte". So soll verhindert werden, dass Marken mit selbstgemachten "Öko-Labeln" und falschen Nachhaltigkeitsbehauptungen in die Irre führen können.
Außerdem müssen Menschen-, Sozial- und Arbeitsrechte bei der Produktion beachtet werden. Bis zum Jahr 2028 sollen alle geplanten Regulierungen in Kraft getreten sein. Zusätzlich hat die Europäische Union es sich zum Ziel gesetzt, dass Modeunternehmen bis 2030 langlebigere Kleidungsstücke herstellen, die wiederverwendet und leichter recycelt werden können.
"Die Verbraucher allein können den globalen Textilsektor nicht durch ihre Kaufgewohnheiten reformieren. Wenn wir dem Markt erlauben, sich selbst zu regulieren, öffnen wir die Tür für ein Fast-Fashion-Modell, das die Menschen und die Ressourcen des Planeten ausbeutet", erklärte Delara Burkhardt, Berichterstatterin über die EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien. Sie fügte hinzu: "Die EU muss Hersteller und große Modeunternehmen gesetzlich dazu verpflichten, nachhaltiger zu wirtschaften".
Den Preis bezahlen ausgebeutete Arbeiterinnen
Das Eingreifen der Politik scheint tatsächlich der einzige Ausweg aus dem Dilemma der Billigmode zu sein, die Verbraucher immer wieder dazu verführt, noch kurz eine Hose für den Preis eines To-Go-Getränks mitzunehmen. Solange das erlaubt ist und die Ware direkt vor der Nase lockt, ist es schwierig, dem schnellen, gedankenlosen Kaufen ein Ende zu bereiten. Gerade, wenn Unternehmen zu unmoralisch niedrigen Preisen greifen, die am Ende ausgebeutete Arbeiter mit ihrer Gesundheit und auch immer wieder mit ihrem Leben bezahlen müssen.
So spitzte sich im Jahr 2023 die Skrupellosigkeit der Fast-Fashion-Giganten zu, während zeitgleich die ersten hoffnungsspendenden Regulierungen vorgestellt wurden. Werden die wie angekündigt umgesetzt, könnten sie einen Unterschied machen. Dann bliebe nur noch zu hoffen, dass Regierungen weltweit Inspiration in dem europäischen Modell finden. In der Mode wird viel kopiert, und hier wäre es tatsächlich weltbewegend.