Künstlerin Rose Wylie

Ein Mädchen von über 80 Jahren

Rose Wylies Bilder sind krude und sorglos – und seit einiger Zeit auch sehr gefragt. Ein Porträt

Zum Interview in der Berliner Galerie ­Veneklasen/Werner trägt die Künstlerin: einen verschlissenen Mantel, wildes Haar, einen Schottenrock, der in Punk-Manier von einer großen Sicherheitsnadel zusammengehalten wird, und klobige Sneakers, auf deren Hinterseite das Wort "Hot" steht. Den Mantel besitze sie seit ihrer Jugend, auch Matisse habe zeitlebens denselben Mantel getragen, erklärt sie verschmitzt, und die Schuhe machten ihr schöne Beine. Das alles ist deshalb bemerkenswert, weil Rose Wylie 81 Jahre alt ist. Und weil sie in diesem Look sehr gut einem ihrer Bilder entsprungen sein könnte.

"Mein Stil hat sich über die Jahre kaum verändert, sowohl was die Mode als auch was die Malerei betrifft", sagt Wylie. Über beide muss man wohl sagen, dass an ihnen alles falsch ist, aber dennoch alles richtig aussieht, nichts passt, alles funktioniert. Wylies Bilder sind als cartoonhaft beschrieben worden, was zutrifft, solange damit Verdichtung, nicht Vereinfachung gemeint ist. Krude und hungrig sind die Werke dieses 81-jährigen Mädchens, das sich nicht sattsehen kann an der Welt und die einfachsten Fragen so unnachgiebig verfolgt, dass am Ende keine Antwort steht, sondern Schönheit und Autonomie des Schauens und Denkens.

Geändert hat sich hingegen, dass sich mittlerweile auch die Kunstwelt nicht sattsehen kann an Wylies Bildern. Seit vier, fünf Jahren wird die Künstlerin mit Preisen, Ausstellungen, Anerkennung überhäuft. Erst vor Kurzem etwa bekannte ihr Malerkollege Oscar Murillo in einem Brief seine Bewunderung und erwarb ein Gemälde; ausgerechnet Murillo, denn der 29-jährige Kolumbianer gilt dank eines kometenhaften Aufstiegs (Preise für seine Gemälde stiegen innerhalb von zwei Jahren um 3000 Prozent) als Inbegriff des hochspekulativen Kunstmarkts, den Wylie bislang nicht mal aus der Ferne kannte.

Was die beiden trotz einer Differenz von fünf Jahrzehnten und Hunderttausenden auf dem Konto verbindet, ist neben der Neigung zu Großformaten eine ähnliche Sensibilität. Wylie malt mit sorgloser Naivität, die eigentlich als Privileg der Jugend gilt und nur selten mal älteren Semestern (dem späten Philip Guston, Joyce Pensato) gelingt. In ihrem Fall scheint sie auch Ergebnis ihrer Erfolglosigkeit zu sein, die sich wie Frischhaltefolie um ihr Werk gelegt hat. "Erfolglosigkeit gibt dir Freiheit. Ich hasse es, mich gefangen zu fühlen. Du kannst tun, was du willst. Niemand sieht es, niemand beurteilt es, du machst es einfach, und wenn es dann zu dir zurückkommt, ist es umso schöner." Mit dem Jungstar Murillo würde Wylie keineswegs tauschen wollen. "Ich habe den leichteren Weg gehabt", sagt sie.


Das ist beim Blick auf ihre Biografie nicht unbedingt nachzuvollziehen. Rose Wylie wurde 1934 in Kent geboren und studierte Mitte der 50er-Jahre an der Folkestone & Dover School of Art, heiratete dann im Alter von 21 Jahren. Ihr Mann Roy Oxlade verfolgte seine Künstlerlaufbahn, während sie drei Kinder großzog. An Kunst war für die kommenden Jahrzehnte nicht zu denken. Neid? Das Gefühl, etwas verpasst zu haben? "Nein, nein", wehrt Wylie mit Nachdruck ab. "Ich habe mich um meine Kinder gekümmert, den Haushalt geführt. Warum sollte ich etwas bedauern?"

Erst 1981 schloss Wylie am Royal College of Art in London ihren Master ab. Es folgten Jahre, in denen sie in ihrem kleinen Bauernhaus in Kent, in dem sie noch heute lebt, in völliger Isolation zeichnete und malte – bis eine "Guardian"-Redakteurin auf sie aufmerksam wurde, das Modelabel der Schauspielerin Sienna Miller eines ihrer Motive übernahm, sie in der New Yorker Galerie Thomas Erben gezeigt wurde und in der Tate Britain in London. "Es ist schön dazuzugehören", sagt Wylie über den späten Erfolg. Nicht weniger, nicht mehr.

Der Garten, den Rose Wylie von ihrem Studio aus im Blick hat, ist nicht nur ein ­wiederkehrendes Motiv, er beschreibt auch ihre Methode. Ausgehend von Zeichnungen (auch Sportler, Models oder Kinofilme inspirieren sie), wachsen Wylies Bilder Tag für Tag. Sie beginnt vielleicht mit einer Figur, einem Hochzeitspaar oder bösen Mädchen oder einem Tier, malt dann Wörter oder Sätze dazu. Dicke Farbschichten, teils direkt aus der Tube herausgedrückt, kontrastieren mit der Flachheit ihrer Figuren, Fehler werden wieder und wieder übermalt oder mit einem Flicken überklebt. Stößt sie ans Ende der Leinwand, dann fehlt eben der Kopf, fliegt eine Hand durchs Bild, bricht der Text um. Oder aber Wylie näht einfach noch ein Stück Leinwand dran. So entstehen Abfolgen wie in einem Comic oder Standbilder eines Films oder eben auch: Diptychen und Triptychen.

Bei allem Anti-Akademismus: Wylie weiß genau, was sie tut. Ein Strichmännchen entpuppt sich als Vincent van Gogh, die "Venus" stammt aus Pompeji, ein Braunton erinnert an die italienische Renaissance. Und das Gras, das wie von Kinderhand gemalt scheint, spiegelt ein mittelalterliches Symbol. Wylies Bilder erzählen kleine, mysteriöse (Kunst-) Geschichten, die offenkundig nicht beendet sind.