Tanztheater von Wim Vandekeybus und Ultima Vez

"Gute Kunst tut weh"

Dieses Tanztheater erzählt direkt von Themen, die der moderne Mensch noch in sich trägt: Eine neue Publikation lässt die 30-jährige Geschichte des Choreografen Wim Vandekeybus und seiner Kompanie Ultima Vez Revue passieren

400 Seiten, 25 mal zwei mal 29 Zentimeter und zwei Kilo schwer: "The Rage of Staging" reist gedanklich und visuell durch das Wim-Vandekeybus-Universum. Es nimmt die Themen und Ideen in den Blick, die den belgischen Choreograf, Tänzer, Regisseur und Schauspieler seit mehr als 30 Jahren antreiben. Mehr als 400 Fotos erzählen davon, Notizen und Skripte aus der Produktion und ausgewählte Texte von Freunden ergänzen den Kosmos, über dessen urknallhaften Entstehung aus dem Nichts Ondrej Hrab schreibt: "Ein Tänzer steht auf der Bühne. Er schmeißt einen großen Mauerstein über seinen Kopf in die Luft und wartet regungslos, bis er wieder auf ihn hinab fällt. Im letzten Moment stößt ihn ein anderer Tänzer zur Seite und fängt den Stein wieder auf. Dann wirft dieser den Stein über sich in die Luft und wartet regungslos ... Das ist für mich die Metapher der Substanz des Theaters. Der Darsteller auf der Bühne riskiert sein Leben und muss sich auf seine Partner verlassen. So sollte modernes Theater aussehen: Der Mauerstein ist echt und nichts kann seinen Flug durch die Zeit aufhalten. Theater ist kollektive Arbeit, es basiert auf dem Gemeinsamen und unauflösbarer Verantwortung. Theater ist Risiko für die Darsteller und das Publikum. Der Stein fliegt weiter aufwärts. Das Publikum hofft auf ein Wunder. Der Stein stoppt und fällt. Dieser Moment kreiert das Drama: Wer kann jetzt warten? Der Instinkt sagt: 'Lauf weg!', die Choreografie: 'Bleib stehen!' Im letzten Moment wird der Körper zu Seite gerissen und andere Hände fangen den Stein. Gute Kunst tut weh, stimmt aber auch euphorisch. Die Situation wiederholt sich wieder und wieder."

 

Schlagartig weltberühmt: Der Leiter des Archa-Theater beschreibt seine erste Begegnung 1987 mit Ultima Vez, viele weitere folgten, das Prager Theater steht immer wieder auf der Tour-Liste der Kompanie. Aber Wim Vandekeybus interessiert sich für mehr als nur spektakuläre, physische Aktionen, es fliegen nicht nur Steine durch die Luft bei "What the Body Does Not Remember" (Revival 2016), sondern viele Szenen hatte die Welt so noch nicht gesehen, sie rührten an Tabus, erzählten sehr direkt von Themen, die der moderne Mensch noch in sich trägt, von Männern und von Frauen, von Gewalt und vom Tod, vom Chaos und vom Nicht-Perfekten, von der Angst und vom Irrationalen.

 

Vandekeybus' sicheres Gespür für Timing und Komposition, sein Vertrauen auf den Instinkt begleitet die Darsteller bei der echten Gefahr, der sie sich aussetzen. Viele Musiker fasziniert diese Mischung aus nervenaufreibenden Aktionen und Rhythmus, die versucht die Extreme der menschlichen Erfahrung zu erforschen, unter anderen kollaborierten Thierry de Mey, David Byrne oder Dave Eugene Edwards mit Ultima Vez.

Wim Vandekeybus wächst im Nirgendwo Belgiens als Sohn eines Tierarztes auf und erlebt so sehr früh Tiere in ihrer natürlichen Umgebung, die einen nachhaltigen Einfluss auf seine Arbeit ausüben: Ihre Reaktionen, ihre Bewegungen und ihr Vertrauen in die Körperkraft prägen sein künstlerisches Schaffen bis heute. Er studiert Psychologie in Leuven, schließt aber nicht ab, weil ihn die "objektiven Wissenschaften" zunehmend irritieren. Während eines Workshops des flämischen Regisseur und Autor Paul Peyskens kommt er in Berührung mit dem Theater. Er belegt ein paar Tanzkurse (klassisch, modern, Tango) und studiert Film und Fotografie. 1985 nimmt ihn Jan Fabre, und Vandekeybus tourt um die Welt mit "The Power of Theatrical Madness".

 

1986 arbeitet er in Madrid mit einer Gruppe junger Tänzerinnen und Tänzer an seiner ersten Produktion. Unter dem Namen "Ultima Vez" (spanisch für "Letztes Mal") gründet er seine eigene Kompanie und bringt mit ihr "What the Body Does Not Remember" (1987) heraus.

Das Buch versammelt neben ausgewählten Fotografien, die nicht dokumentieren sondern den emotionalen Gehalt der Arbeiten wiedergeben, auch Texte, durch die sich der weite Horizont erschließt. Dazu gehört neben Schauspiel, Tanz und Musik auch Literatur, zum Beispiel Pasolini, Peter Verheelst, immer wieder Kurzgeschichten von Paul Bowles, Milorad Pavić, Saul Bellow oder die Ödipus-Übertragung von Jan Decorte. Ließen die ersten Aufführungen noch einen roten Faden vermissen, fließen bald narrative und theatralische Elemente in Vandekeybus' Arbeit ein, mythologische und philosophische Bezüge. Zum Beispiel ist "Immer das Selbe gelogen" (1991) ein sensibles Porträt des 89-jährigen Hamburger Schauspielers Carlo Verano, der auf dem Abstellgleis des Theaters gelandet war, und erzählt von Vandekeybus' Freundschaft mit ihm. Veranos Leben war eine einzige Aufführung, sein letztliches Scheitern immer spürbar, er hatte eine enthusiastische, manische Seite, aber es gab auch Zeiten in denen er alles verfluchte und nur noch wütend vor sich hin schimpfte. Verano stand für vergangenen Ruhm, er war die lebende Gefahr, vor allem durch seinen Geist.

Als er stirbt choreografiert Vandekeybus 1995 mit "Alle Größen decken sich zu" noch einmal eine Aufführung über Veranos Leben. Bei "Her Body Doesn't Fit Her Soul" (1993) arbeitet er zum ersten Mal mit blinden Tänzern, wie auch in der aktuellen Arbeit "Mockumentary of a Contemporary Saviour": Blindheit wird zur Metapher für den Körper, der sich seinen Instinkten unterordnet, für die Verwundbarkeit und Fragilität des Körpers, aber auch für seine Kraft. Nicht zuletzt gehört zu all dem auch Vandekeybus' Liebe zur Fotografie und zum Film, die sich in seinen Tanz- und Spielfilmen zeigt, etwa in "Blush" und "Monkey Sandwich".

 

Im Zentrum der Deutschlandpremiere von "Mockumentary of a Contemporary Saviour" am 14. Mai steht das Porträt eines zeitgenössischen Messias. Die Menschen sind unsterblich geworden. Bedroht von einer alles zerstörenden Kraft, gelang einigen von ihnen mit der Hilfe eines Kindes die Flucht in ein Refugium. Doch das Leben dort erweist sich als unerträglich. Denn da die Menschen immer noch menschlich sind und von unterschiedlicher Herkunft, hadern sie miteinander und mit sich selbst. Sind sie es wert, gerettet zu werden? Sollen sie ihr Schicksal annehmen oder wäre es besser, sich der zerstörerischen Macht zu ergeben? Utopie und Dystopie liegen nicht weit auseinander.