Felsenbühne Rathen

Wild ist der Westen, schwer ist der Beruf

In Rathen gibt es eine Naturbühne, auf der seit über 80 Jahren Karl May gespielt wird. Eine Ortserkundung

An manchem Sommertag wartet der Kriegspfad. Der Mann, den alle Kinder nur Shatterhand nennen, besteigt den 38er-Bus von Cossebaude nach Dresden und dort die S-Bahn zu den ersten Anhöhen in der Sächsischen Schweiz. Er fährt vorbei an dem alten Schienenstrang, der von Prag nach Berlin führt, und entlang der feuchten Mischwälder am Rande der alten Tafelberge. Am Oberlauf der Elbe schließlich, dort wo sich seit Jahrtausenden das geheimnisumwitterte graue Steinriff der Bastei-Felsen aus der Landschaft erhebt, macht der Mann halt.

Er geht einen schmalen Weg hinauf bis zu einer Gabelung und sucht dort den Himmel nach Regenwolken ab. Dann, wenn er sich seinen schokofarbenen Fransenrock angezogen und den berüchtigten Bärentöter unter den Arm geklemmt haben wird, wird er sich hinter einen provisorischen Bretter­verschlag verschanzen und auf ein zuvor verabredetes Zeichen warten: "Herr Haase, bitte zur Bühne!"

Es ist ein immer wiederkehrendes Ritual. An zahlreichen Sommertagen wiederholt es sich. Hier, im großen Kessel am Amselgrund, werden sie aufei­nandertreffen: der edelmütige Cowboy, den alle nur Shatterhand nennen, und der messianische Wilde mit dem merkwürdigen Namen "Brennendes Wasser" – was auf Indianisch Winnetou heißt. Während sich weit über ihnen ein paar wage­mutige Kletterer mit Seilen an den Bastei-Felsen herablassen, werden sie unten einen alten Western-Stoff des Radebeuler Schriftstellers Karl May auf die Bühne bringen: "Winnetou I" – einen sächsischen Abenteuerklassiker um einen freiheitsliebenden Apachen-Häuptling und dessen Freundschaft zu dem Gentleman-Gaucho Old Shatterhand. Über zwei Stunden hinweg wird es dabei um große Gefühle gehen: um Hass, Ehre, Freundschaft und Liebe. Gespielt wird auf einer riesigen Freilichtbühne oberhalb des sächsischen Kurorts Rathen. Es ist ein 1936 eingeweihtes Felsentheater, das zunächst als Laienspielstätte für Thingspiele diente und seit den 50er-Jahren von den Landesbühnen Sachsen als Sommerbühne genutzt wird. Zwischen Anfang Mai und Ende August verbringen hier die ansonsten in Radebeul beheimateten Schauspieler ihre Sommer. In oft glühender Hitze bringen sie "Momo", "Wilhelm Tell" oder den "Freischütz" auf die Bühne. Und ab und an im Dämmerlicht singt ein wetterfester Papageno ein Tirili gegen die harte Felswand an. Um die Mittagszeit aber, wenn die Sonne über der großen Naturbühne im Zenit steht, spielt man seit Jahrzehnten ein Stück aus dem Reise- und Wild-West-Repertoire von Karl May.

 

Für Jürgen Haase, den Mann, den sie dann Old Shatterhand nennen, geht das nun schon 30 Jahre so. An zahlreichen Sommertagen fährt der Schauspieler auf den immer gleichen Kriegspfad hinaus: zunächst in den 38er-Bus, dann in die S-Bahn. Am Anfang war es noch wie Urlaub. Es ging ums Reiten auf echten Pferden und ums Schießen mit realistischen Colts. Jeden Sommer, sagt er, konnte er auf der mit Tannen und Gräsern bewachsenen Bühne einen Kindertraum leben: "Wir spielten Cowboy und Indianer." Doch über all die Träume hat er graue Haare bekommen, raue Haut und tiefe Falten. Lange, sagt er, könne er den Job wohl nicht mehr machen. In der kommenden Saison sei für ihn Schluss. "Bei Karl May ist Old Shatterhand Anfang 20. Ich aber werde im nächstes Jahr 60. Dann werde ich den Bärentöter an den Nagel hängen."

Haase tupft sich kleine Schweiß­perlen von der Stirn. Zwölf Uhr mittags. Der Auftritt in der prallen Sonne geht auch dem gut trainierten Greenhorn allmählich an die Substanz. Mit verschmitzten Augen blinzelt er gegen das gleißende Sonnenlicht an. Er nimmt einen kräftigen Schluck Wasser aus einer Flasche und sitzt für Momente einfach nur da. Vielleicht haben es Cowboys mit jedem Jahr ein bisschen schwerer. Die Zeiten, meint jedenfalls Haase, änderten sich. Heute reden alle über postheroische Männerbilder und manch einer gar über das Ende jenes Westens, der nicht nur bei Karl May einst der "Wilde" war. Da ist wenig Platz für Typen vom Schlage eines Cowboys wie Shatterhand.

Wie anders aber war das 1984, als Haase das erste Mal auf der Rathener Bühne auftrat. Damals war der Cowboy noch Indianer. Er spielte Winnetou auf der berüchtigten Suche nach dem Schatz im Silbersee. Ein Leuchten springt in Haases Augen: "Damals bin ich auf dem Pferd in die Felsenschlucht geritten, und es gab einen schier unendlichen Applaus." 2 200 Leute sollen sich an jenem Sommertag im Schatten der geheimnisvollen Felsformation über dem nördlichen Elbufer versammelt haben – die meisten gequetscht auf langen Bänken oder vereinzelt auf Steinen und Felsvorsprüngen sitzend.

 

Heute sind es im Durchschnitt noch 800. Kleine Jungs, die bei Bockwurst und unter Sonnen-Caps von Feuer­wasser und Freundschaft träumen. Auch Jürgen Haase war einst so ein Junge. Einer, der mit anderen Jungen durchs Unterholz gepirscht ist und sich mit den Indianern nach der niemals erlöschenden Friedenspfeife gesehnt hat. "In meiner Kindheit habe ich Karl Mays Romane mit kleinen Gummifiguren nachgespielt." Und manchmal, an den ganz besonderen Kindertagen, habe er im West-Fernsehen Pierre Brice und Lex Barker gucken dürfen.

Es war eine Blutsbruderliebe, die unterm Küchentisch blühte. Offiziell war Winnetou im Osten verboten. Die roten Apparatschiks und der Apache – bei aller Indianerliebe, sie passten nicht. Als Lieblingsautor von Adolf Hitler war Karl May verpönt. Bis in die 80er-Jahre standen seine grün eingefassten Romane in der DDR auf dem Index. Erst 1983 wurden sie zum Druck frei­gegeben. "Da zog man Altbestände aus der hintersten Regalecke einfach wieder nach vorn", erinnert sich Haase, der kurz darauf den ersten Winnetou auf einer DDR-Bühne spielen durfte. Heute vergleicht er die Skepsis gegenüber dem umstrittenen Schriftsteller aus Radebeul gern mit den vielen Vor­behalten gegenüber dem legendären Opernkomponisten aus Leipzig: May und Richard Wagner – zwei Sachsen, deren Werke es im geteilten Nachkriegsdeutschland nicht gerade einfach hatten. Den einen waren sie Symbol von widerborstigem Freiheitsdrang, den anderen waren sie nach 1933 unters Rad der Geschichte gekommen.

Auch die Felsenbühne in Rathen zeugt mit ihrer langen Tradition von den Abgründen in der May-Rezeption. Es war im Jahr 1938, als der damalige sächsische Gemeindekulturverband den Abenteuerstoff erstmals im Schatten der mysteriösen Sandsteinfelsen inszenierte. Weit vor Bad Segeberg oder dem sauerländischen Elspe veranstaltete man hier an der Elbe Karl-May-Spiele. Doch das, was es damals zu sehen gab, das war ein Nazi-Winnetou mit braungefärbten Apachen und einem Shatterhand als Edelmenschen.

 

Mit im Publikum saß damals bei der Premiere auch Klara May. Die Witwe des 1912 verstorbenen Abenteuerschriftstellers war zu jenem Zeitpunkt bereits eine glühende Verehrerin Adolf Hitlers gewesen. Immer wieder hatte sie in ihren Briefen, die sie aus ihrer Radebeuler "Villa Shatterhand" heraus schrieb, von der "innigen Liebe und Verehrung" für "ihren Führer" fabuliert. Gelegentlich auch hatte das bekennende NSDAP-Mitglied die Geschichten des Abenteuerschriftstellers umzuschreiben und zu arisieren versucht.

Es ist dies die dunkle Seite der lichten Bühne. Jürgen Haase kennt auch diese genau – die Freundschaft zwischen Klara May und Hitlers Halbschwester Angela Raubal; die Verehrung Hitlers für die May'schen Helden. Angeblich, so hat es sein Biograf Joachim Fest später behauptet, hätten sie Hitler "die Augen für die Welt geöffnet". Ein Hauch von Manitudämmerung legt sich da auf die grünen Jagdgründe am Elbufer nieder. Als wäre die Geschichte der "Villa Shatterhand" an manchen Stellen ähnlich verworren wie die der "Villa Wahnfried" in Bayreuth. Für einen Moment jedenfalls erscheint die große Naturbühne im Schatten der geheimnisumwitterten Sandsteine wie ein Grüner Hügel für kleine Jungs.

Denen aber sind die ewigen Ver­strickungen von The Good, the Bad and the Ugly ziemlich egal. Im großen Rund vor der Bühne wollen sie den Sieg ungebrochener Helden über wild um sich schießende Halunken sehen. Jürgen Haase ist in diesem Spiel nicht irgendein Mann in braunen Hosen. Für die kreischenden Kinder, die sich an den spannendsten Stellen mit dem Mut der Verzweiflung an Lehrer und Trinkflaschen klammern, ist Haase wirklich Old Shatterhand. Dass er in der DDR auch schon mal Winnetou war und dass er ansonsten auch mal den Valentin in Goethes "Faust" oder den Doktor in Büchners "Woyzeck" gegeben hat? Geschenkt. Mal ist man Cowboy und mal Indianer. Letztlich ist das wie im richtigen Leben. Was unveränderlich bleibt, ist ein Gefühl. Jürgen Haase formuliert es so: "Wenn man abends nach Hause fährt, ist man ziemlich ­geschafft."