Heute Morgen informierte mich mein Telefon über eine Nachricht von Klaus Lemke. Der Filmemacher macht das manchmal: Er verschickt Nachrichten an Menschen wie mich, obwohl wir uns noch nie begegnet sind und ich erst ein Mal für circa zwei Minuten mit ihm telefoniert habe. Auch das ist jetzt zwei Jahre her. Seitdem erreicht mich alle paar Monate ein kurzer Text. Ich finde sie oft sehr rührend, besonders die Zeilen heute am Morgen haben mein müdes Herz ergriffen. Da schrieb er um 7.10 Uhr in der Früh, dass er einem Blogger auf die Frage, ob Warhol oder Godard für ihn wichtiger war, geantwortet habe: "In den 60er-Jahren waren wir alle in dasselbe verliebt: in uns. Und dass uns das Leben vor lauter Begeisterung aus der Hand fressen müsste, wenn wir nur immer so weitermachen. Bis wir dann in den 80er-Jahren selbst zum Futter wurden. Niemand konnte sich eine Welt vorstellen, in der wir nicht selbst die Größten waren. Kissez. Yours. Lemke."
Das erste, was ich am Morgen also lese, ist das Geständnis eines in die Jahre gekommenen Künstlers. Es begleitet mich zu meinem Kaffee und der Zigarette auf dem Balkon, auf die Fahrt in die Redaktion und jetzt sogar bis zu diesem Text. Eigentlich soll der Text von einer Kapelle handeln, die ich gestern Abend besucht habe. Sie steht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin Mitte. Es ist ein kleiner verwunschener Park, in dem Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Hegel und Fichte begraben wurden. Friedrich der Große hat der Kirchengemeinde das Gelände überlassen – so steht es in der Broschüre. Später soll sich die Gestapo hier verschanzt haben. Bis heute sieht man Einschusslöcher auf einigen Grabsteinen. Vieles wurde saniert. Nur die kleine Kapelle am Rande drohte auseinanderzubrechen, so dass sich ein großzügiger Berliner Bürger dazu verpflichtet fühlte, sie auf Vordermann bringen zu lassen. Es wurden Architekten engagiert, außerdem der Künstler James Turrell. Deshalb war ich dort. Um mir anzuschauen, wie der Amerikaner aus Kalifornien die Kapelle in Berlin gestaltet hat. Nun aber sausen mir Lemkes Zeilen dazwischen und ich frage mich, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte.
Kapellen sind Orte für Trauernde. In ihr werden die Toten aufgebahrt, es stehen Särge vor dem Altar. Es werden Blumen ausgelegt und Kerzen angezündet und Ansprachen gehalten, und man soll sich diesen Moment und diesen Anblick ganz unbedingt einprägen, es ist immerhin das rituelle Ende eines Lebens und der rituelle Anfang eines Abschieds. Die Kapelle ist mit anderen Worten ein wichtiger Ort, der gestaltet werden will, und James Turrell erschien den Verantwortlichen in Berlin dafür der Richtige zu sein. Er arbeitet ja mit Licht. Er versetzt Räume in Farben oder öffnet sie zum Himmel. Er verdunkelt, erhellt, lässt alles ab- und wieder auftauchen. Er hat sogar einen Krater gekauft in der amerikanischen Wüste, um ungestört von der Zivilisation nach dem Himmel, der Sonne, den Sternen und dem Mond zu greifen. Kein Wunder also, dass ihm der Auftrag gegeben wurde. Das Licht ist vielleicht die einzige Metapher, die Atheisten und Christen teilen, um zwischen Sein und Nicht-Sein zu unterscheiden. Nur während es sich die Aufklärer zur Aufgabe gemacht haben, alles zu durchleuchten, verlassen sich die Christen auf die Erfahrung von Dunkelheit. Ohne sie gebe es keinen Schöpfer und keine Schöpfungsgeschichte, kein "Es werde Licht! und es ward Licht."
In diesem Sinne hat Turrell nun auch die Kapelle in Berlin gestaltet und vielleicht ist genau das das Problem an dieser ganzen Sache und auch ihre Beziehung zu Lemke: Turrell ist nur drei Jahre jünger als Lemke. Turrells Kunst kann es sich aber nicht vorstellen, dass es etwas Größeres gibt als sie selbst. Das war mal ihre Stärke, hier in Berlin aber ist es ihre größte Schwäche.
Es gibt, so erzählt eine reizende Studentin der Kunstgeschichte, zehn Programme, die nacheinander über die Farbe des Lichts entscheiden. Stundenlang wandert es durch das Spektrum des Regenbogens, ist mal grün, mal rot, mal rosa, lila oder pink. Die ganze Kapelle kennt nichts anderes als dieses LED-Licht, jedenfalls nicht zur blauen Stunde, als ich da war. Gemeinsam mit ein paar anderen Leuten war ich in blaues Licht gehüllt, konnte beobachten wie meine Haut immer fahler aussieht und die Zähne der anderen anfangen zu strahlen, fast war es wie in der Disko in Pinneberg, in die mich meine Cousine einmal mitgenommen hat oder auch beim Zahnarzt, zu dem meine Mutter mich geschleppt hat. Außerdem changierte die Apsis der Kapelle zwischen Orange und stumpfem Weiß, an nichts kann sich der Blick festhalten, er muss unuterbrochen einer Regie folgen, die doch wenigstens hier für einen Moment aussetzen sollte.
Nun können die Programme von Turrell aber bedient werden. So wie der Altar passend zum Kirchenfest die liturgischen Farben annehmen kann - violett, weiß, rot und grün – können die Trauergemeinschaften aus dem Turrell-Katalog über das Licht entscheiden, das sie während der Andacht beleuchtet. Aber auch das dürfte die Suche nach Halt enttäuschen, es sei denn jemand versucht, die einzige Entscheidung, die er selbst nicht treffen kann – wann ein anderer Mensch stirbt – auszugleichen: durch Kontrolle über Lichtschalter oder Blumenarten oder Sargdesigns.
Ein Besuch ist dieser Ort natürlich trotzdem wert. Und sei es, um das Grab von Bertolt Brecht zu besuchen. "Und", wie der Schriftsteller Cees Noteboom schreibt, "ein paar Schritte weiter die von Fichte und Hegel samt ihren Damen, quiet graves, unquiet thoughts". (Klaus Lemke, ich lese und höre Sie.)