Ruth Orkin (1921-1985) war ihrer Zeit voraus. Als eine der wenigen Straßenfotografinnen der 1940er- und 50er-Jahre, widersetzte sie sich dem gesellschaftlich erwarteten Frauenbild dieser Ära. Im September wäre die Pionierin mit der Kamera 100 Jahre alt geworden. Dafür wurden nun unveröffentlichte Arbeiten und Archiv-Highlights gesammelt und begleitet von Erinnerungen ihrer Tochter Mary Engels zum Buch "A Photo Spirit" zusammengestellt.
Die Motive von Ruth Orkins sind stets mit Bedacht gewählt. Zwischen Alltagsszenen, Porträts und Stadtlandschaften nimmt sie die Betrachterinnen und Betrachter mit auf eine Reise und eröffnet neue Blickwinkel. Die wahre Kunst der Straßenfotografie besteht schließlich darin, dass die Kamera nie zu präsent oder zu aufdringlich sein darf, aber trotzdem allzeit bereit sein muss. Außerdem bedeutete ihre Arbeit für Ruth Orkin, "sich zu entscheiden", wie sie in einem ihrer Texte schreibt, die in dem Buch abgedruckt sind. Sich entscheiden, wann ausgelöst wird, ob es im Stillen passiert, oder ob man sich zu erkennen gibt und zuletzt, in welchem Magazin es zuerst veröffentlicht werden soll.
Machtverhältnisse mit Bildern hinterfragen
Eine Auftragsreise führt sie 1951 nach Israel, wo sie für das "Life"-Magazin das Lebensgefühl einer neuen Gesellschaft festhalten sollte. Später lernt sie auf einer Europatour die US-Amerikanerin Ninalee Craig (Künstlername: Jinx Allen) kennen und erarbeitete eine ganze Fotoreihe mit ihr. Während dieser Zeit ist ihre wohl berühmteste Aufnahme entstanden. Für "American Girl in Italy, Florence" stellte die beiden in Florenz eine Szene nach, mit der bis heute jede Frau vertraut sein dürfte. Um sichtbar zu machen, wie es für Frauen wirklich war, allein zu reisen, fotografierte Orkin Craig an verschiedenen Orten in der Stadt, um ihre jeweiligen Erfahrungen darzustellen. Auf dem Trottoir einer Hauptstraße stellten sie einen Moment nach, in dem Craig von einer Gruppe von Männern bedrängt und begafft wurde. Eine frühe Kritik des "Cat Calling", könnte man heute wohl sagen. Mit der Kraft des Humors machte sie die Zuschauer auf die ungleichen Machtverhältnisse in dieser Szene aufmerksam. Nachdem sie sich an viele verschiedene Publikationen gewandt hatte, wurde eine Auswahl der Florenz-Fotos, darunter auch dieses, im September 1952 in der "Cosmopolitan" als Fotoessay "When You Travel Alone ... " veröffentlicht.
Die Aufnahmen sind geschickt inszeniert. Sie äußern gleichermaßen Kritik und werfen Fragen auf, sehen aber gleichzeitig nach einem zufälligen Schnappschuss aus. Diese Doppeldeutigkeit prägt die Handschrift von Ruth Orkin. Ein liebevoll gemeinter erhobener Zeigefinger, welcher das Störende und das Banale vereint und gleichermaßen beleuchtet. 1952 kehrte sie nach New York zurück, um dort mit Morris Engel, ihrem zukünftigen Mann, und Raymond Abrashkin den Film "Der kleine Ausreißer" zu drehen. 1954 gewannen sie damit einen Oscar in der Kategorie "Beste Originalgeschichte".
Eine Künstlerin, die wusste, was sie wollte
Bei einer redaktionelle Anfrage von John G. Morris, dem damaliger Bildredakteur des "Ladies Home Journal", ging es um Aufnahmen von "unentdeckten amerikanischen Schönheiten", die für eine Titelbildillustration angedacht waren. Orkin antwortete mit einer farbigen Momentaufnahme der New Yorkerin Geraaldine Dent am Obst- und Gemüsestand. Sie argumentierte, dass das Bild genau das darstelle, wonach Morris suchte: "Ich hatte nicht nur ein schönes Mädchen fotografiert, das kein Model war, sondern sie tat etwas, womit sich alle seine Leserinnen identifizieren konnten."
Ruth Orkins Fotografien beweisen einen scharfen Blick auf die damalige Gesellschaft. Ob sich seitdem viel verändert hat in den Rollen, die wir einnehmen und die uns zugeschrieben werden? Teil der Publikation von Hatje Cantz sind Orkins Tagebucheinträge. Ein Ausschnitt bezieht sich darauf, wie es war, eine Fotografin zu sein: "Als ich 1947 zum ersten Mal der ASMP (American Society of Magazine Photographers) beitrat, gab es 30 weibliche Mitglieder von insgesamt 300. Heute sind es noch 6 Frauen von insgesamt 4000 Mitgliedern. Sehen Frauen anders als Männer? Natürlich sehen wir anders, denn wir sind unterschiedliche Menschen. Jeder sieht anders als jeder andere. Zum Teil liegt es daran, dass man groß oder klein ist, oder dass man einer Minderheit angehört oder einer Nicht-Minderheit angehört. All die Dinge, die einen Menschen ausmachen, prägen seine Sicht auf die Welt, und ein Teil der Person ist ihr Geschlecht." Thematiken die auch in unserem Alltag immer noch prägen. Orkin wusste früh, was sie wollte und ließ sich von dem Umständen ihrer Zeit nicht unterkriegen.