Arne Vogelgesang, wahrscheinlich haben die meisten Leute zum ersten Mal von "Q" bei der Stürmung des Reichstags im vergangenen Sommer gehört. Können Sie in einem Satz erklären wer oder was das ist?
"Q" ist das Pseudonym von einem oder mehreren Menschen, die seit Ende 2017 auf Imageboards Beiträge veröffentlicht haben, erst auf 4chan, dann 8chan und 8kun. "Q" behauptete in diesen anonymen Internetforen als Insider aus der US-Regierung mit Nähe zum damaligen Präsidenten Trump geheime Hinweise zu geben, wie der Präsident gegen eine Verschwörung der demokratischen Eliten ankämpfte, die in allerlei böse Machenschaft verstrickt seien – allen voran Kindesentführung und -misshandlung. Wer "Q" ist, weiß man bisher nicht sicher.
Alles, was man für eine Verschwörungserzählung braucht, oder?
Die Verschwörungsinhalte von QAnon – was eigentlich der Name des oder der Postenden ist – sind aber nicht neu, sie wurden nur neu kombiniert. Allerdings in interaktiver Form: "Wir sind Zeugen eines riesigen Whistleblowing-Events". Der Insider leakt live über Jahre hinweg Informationen, aber aus irgendeinem Grund – nämlich weil der Plot es so will – kann er nicht einfach sagen, was er sagen will, sondern postet nur Rätsel. Die anderen müssen das dann entziffern. Diese Form von interaktivem Spiel hat QAnon so attraktiv gemacht. Es ist ein Angebot von Spektakel und Teilhabe an einem großen politischen Ereignis.
4chan ist ein Forum, auf dem Memes und Gaming-Inhalte von meist anonymen Nutzerinnen und Nutzern gepostet werden, und eine der meistbesuchten Seiten im Internet. Warum stürzt sich die Kunst eigentlich so begeistert auf solche Phänomene?
Bei neuen Phänomenen von Kulturproduktion gibt es meist erst eine Phase großer Begeisterung. Weil die Prozesse neu sind und eine anarchische Kraft haben. Oft tendiert man dann dazu, die problematischeren Teile dieser Produktion weniger anzuschauen. Auf die Begeisterung folgte mit den terroristischen Anschlägen in Christchurch oder Halle – die auf diesen Imageboards angekündigt wurden – eine Phase, wo diese Foren das Böse schlechthin waren, was aber wieder die Hälfte weglässt. Die interessanten Prozesse finden dort schließlich immer noch statt. Ich glaube, das Interesse der Kunst liegt eher in diesem Graubereich des Sowohl-als-Auch.
Sie sind ja eigentlich auch Theatermacher und nehmen einen ähnlichen Weg. Sehen Sie da Parallelen zum Theater?
Aus meiner Perspektive interessiert mich natürlich die Performativität von dem, was da passiert. Durch die Verschmelzung von gesprochener und geschriebener Sprache im Internet haben die Postenden einen viel dramatischeren Umgang damit. Wir begegnen uns in Chats und Foren als Figuren: Wie führe ich mich ein? Was hat jemand für einen Auftritt? Wie erkennen wir einander schon nach wenigen Sätzen? Diese Dinge sind auf einer Bühne auch wichtig.
In "This Is Not A Game" benutzen Sie den Begriff LARP, also Live Action Roleplay. Das spielerische Element hat auf 4chan eine wichtige Rolle. Wer spielt da?
Es liegt in der Natur anonymer Imageboards, dass man das nicht so genau weiß. 4chan war lange Zeit ein wichtiger Ort im Internet, um sich anonym auszutauschen und Dinge zu tun, die man mit dem eigenen Namen und Gesicht nicht machen kann oder will. Daraus hat sich eine reiche Kultur entwickelt: Memes, sprachlich und bildlich, die Ausbildung von einer sehr schnellen Aufmerksamkeitskultur.
Wie kommt das LARP hinzu?
Den Begriff LARP verwende ich, weil er in der Kultur von Imageboards benutzt wird, um einen Umgang mit der Anonymität zu beschreiben. Der Begriff LARP kommt eigentlich aus der Praxis von Live-Rollenspielen, wo Leute real miteinander Fiktionen ausagieren. Im Wald, mit Schwertern beispielsweise. Aber auch in anonymen Foren tun Menschen gerne so, als wären sie jemand Besonderes. Und andere – gerade, wenn sie ihnen nicht glauben – nennen das dann oft etwas abschätzig "larpen". Und auch "Q" ist kein wirklicher Whistleblower, sondern er oder sie spielt es nur. Und viele spielen mit.
Beim traditionellen LARP gibt es eine zeitliche Begrenzung und alle wissen, dass gespielt wird. QAnon beteuert: “This is not a game”. Liegt da nicht ein großer Unterschied?
Das ist ein Teil dessen, was man Gamification von Politik nennen könnte. Oder vielleicht eine Verkunstung, also die Übertragung von künstlerischen Methoden auf den Umgang mit der Welt.
Woher kommen diese Methoden?
In Teilen des Internet benutzt man Film- und Spielwelten, von filmischen Mitteln und Erzählweisen zur Beschreibung politischer Realität.
Wäre so etwas zum Beispiel der Film "The Matrix", wenn man ihn als Parabel auf unsere Gegenwart liest?
"The Matrix" funktioniert selbst schon metaphorisch. Die quasi-spirituelle, messianische Erzählung des Films besagt: Ein Held sieht die Welt falsch, dann kommt die große Enthüllung, der Held stellt fest, dass alles ganz schlimm ist und fängt an zu kämpfen. Dieses Narrativ eignet sich hervorragend für die verschwörungsideologische Bearbeitung von Wirklichkeit. Politische Mobilisierung qua Erkenntnis, die mit der sprichwörtlichen roten Pille kommt. Also nicht durch harte Arbeit am Verstehen, sondern durch einen plötzlichen shift in der Wahrnehmung, einen Glaubenswandel. Dazu gehört auch, dass es nur wenige Eingeweihte gibt, die das Geheimnis erkannt haben, und mit denen zusammen kämpft man gegen die übermächtige Verschwörung hinter der Lüge. Das Meme von der "roten Pille" hat sich leider als sehr fruchtbar für rechte Politik erwiesen – oder allgemeiner für Politik, die mit Verschwörungserzählungen operiert.
Aber wie soll da die Lüge entlarvt werden?
Die Fantasie dahinter ist eine der Entbergung und Erkenntnis. Das ist im Grunde auch eine Aneignung der alten, radikal linken Vorstellung, dass irgendwann das Bewusstsein die Massen ergreifen wird. Genau das gleiche Narrativ finden wir jetzt auf der Rechten, allerdings eher ins Kulturelle gewendet.
Wo liegt da der Unterschied?
Die meisten Menschen, die nicht so weit oben in der kapitalistischen Nahrungskette sind, werden sich darauf einigen können, dass da ein paar Sachen nicht gut organisiert sind, und dass es nicht so leicht ist, die Ursachen dafür zu benennen und zu bekämpfen. An diesem Punkt der Ursachenerklärung gabeln sich die Wege. Denn das Verschwörungsdenken versucht, einige wenige Verantwortliche ausfindig und dingfest zu machen. Das ist der Unterschied. In der Verschwörungserzählung wird eine feindliche Macht imaginiert. Man glaubt, ihr Wirken zu sehen, aber dann fängt man eben an zu halluzinieren.
Mich erstaunt, dass QAnon in Deutschland die größte Anhängerschaft außerhalb der englischsprachigen Welt hat. Warum?
Das hat 2020 eine Studie des Institute for Strategic Dialogue festgestellt. Es gab in Deutschland gute Verbindungen zu den bestehenden Propagandanetzwerken von Reichsbürger*innen, deren Inhalte sich oft mit "Q"-Inhalten decken. Diese wurden dann in all die Telegram- und anderen Gruppen eingespeist, die sich nach Beginn der Pandemie gebildet haben. Die Sorge um Kinder, auch Teil der "Q"-Erzählung, wurde zur ideologischen Waffe in der Organisation von Corona-Protesten, denn Kinder sind in der Krise allemal Teil des politischen Kalküls. Mit Fragen nach Impfung und Gesundheit konnte man auch Impfgegner und Teile der Szene der "alternativen Heilmethoden" erreichen. Wenn man fragt, warum gerade Deutschland, muss man aber auch sagen, dass antisemitische Verschwörungstheorien hier immer noch viel besser funktionieren als die meisten Leute wahrhaben wollen. Zum Teil vielleicht genau deswegen.
In Teilen der US-Linken gab es ja einen kurzen Moment, in dem man Verschwörungserzählungen nicht den Rechten überlassen wollte.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es Verschwörungen wirklich gibt. Die Erzählung von einer Verschwörung muss auch nicht bedeuten, dass dahinter die geschlossene Ideologie einer verschwörerischen Welt steht, die alles in Freund-Feind-Schemata einteilt. Bestimmte Aspekte von Lobbyismus lassen sich beispielsweise als Verschwörung beschreiben. Oder wenn Akten des NSU-Prozesses unter Verschluss genommen werden, dann gibt es Leute, die bestimmte Interessen haben, die anderen nicht offenbart werden. Das kann man als Verschwörung bezeichnen, und man liegt nicht komplett falsch. Diese Probleme sind aber nicht verschwörungsideologisch lösbar, sondern müssten auf systemischer Ebene angegangen werden.
Sie recherchieren an diesen besonderen Orten im Internet, und die Ergebnisse präsentieren Sie als Lecture Performance – das Format erlaubt akademische Distanz, hat aber doch etwas mit Performance zu tun.
Ich habe am Theater Dortmund einmal ein solches Crossover von Wissensvermittlung und Theater aufgeführt. Aber "This Is Not A Game" würde ich einfach einen Vortrag oder ein Essay nennen, obwohl es auf viele Leute performativ wirkt – vielleicht, weil es die Ästhetik und den Rhythmus eines YouTube-Videos hat. Ich versuche aber hier die klassische Rolle des Vortragenden nicht zu brechen.
Warum?
In der Vergangenheit habe ich in Vorträge teilweise künstlerisch verarbeitende Videocollagen aus Propagandamaterial integriert, dann waren Leute oft verwirrt und wussten nicht mehr, was man glauben kann. Gerade, wenn es darum geht, zu erzählen, wie bestimmte Verschwörungnarrative ihren Anfang genommen haben, und wie dabei wahnsinnig kreativ mit Fakten und Wirklichkeit umgegangen wird, sollte man das nicht zu sehr verunklaren.
Trotzdem will man bei dem Material, das sie zeigen, wissen, wie es mit den Posts und Memes weitergeht und vor allem: Wie weit es geht. Damit hat ja auch die berühmte rabbithole-Metapher zu tun, die besagt, dass man sich dem Sog von Informationen und Inhalten nur schwer entziehen kann.
Ja, dieses Gefühl will ich schon ein bisschen reproduzieren. Da liegt am ehesten der künstlerische Anteil. Ich bin für die Recherche selbst ein paar Wochen in einem rabbithole verschwunden. Das war keine schöne Zeit. Aber es lohnt sich, diese Erfahrung zu vermitteln, weil sie erklärt, warum "Q" so erfolgreich sein konnte.
Hatten Sie keine Angst, sich zu verlieren, bis die Verschwörungserzählung von "Q" auch für Sie Sinn ergibt?
Die Verführungskraft kann stark sein. Ob man in einem verschwörungsideologischen Kaninchenloch bleibt oder nicht, kann man aber eine ganze Weile noch selbst entscheiden. Es gibt Wege zurück. Ich glaube, die Angst ist berechtigt, gleichzeitig finde ich es lohnenswert, die Erfahrung zu machen, um zu verstehen, denn nur so kann ich die Warnung vor bestimmten Dingen überprüfen. Ich bin liberal genug, dass ich die Freiheit will, mich in diese Gefahr zu begeben.