Louis ist fest angestellter Künstler. Eine NGO beschäftigt ihn als Berater, um "zu zeigen, wie man besser denkt, wie man ihre Institutionalität kritisiert". Seine Mutter ist gerade gestorben, aber selbst seiner Freundin, der für einen Immobilienkonzern arbeitenden Wissenschaftlerin Anja, gelingt es nicht, echte Gefühlsregungen bei ihm festzustellen. Auch das Wetter ist seltsam aus dem Ruder gelaufen, genau wie die Wettervorhersagen.
Der erste Roman der New Yorker Autorin Elvia Wilk ist angesiedelt im Berlin der nahen Zukunft. Anja und Louis leben in einem nachhaltigen Wohnprojekt auf einem Berg in experimenteller Architektur – ein Privileg. Ihre Straßenbeleuchtung schimmert grün, nicht gelb wie im alten Osten oder weiß wie im alten Westen. Im verheißungsvollen green light des Wohlstands und des reinen Gewissens dürfen sie leben, zu gewissen Bedingungen.
Die Gegenwart ein, zwei Stufen weitergedreht
Elvia Wilks Science-Fiction ist verhalten, sie dreht bestimmte Aspekte der Gegenwart nur ein oder zwei Stufen weiter: Die creative class ist unbemerkt zum Fußvolk eines ungreifbaren Kapitalismus geworden, die Kreativität selbst ist die Ware. Mit den diffusen Arbeitgebern – ausbeuterische Wohltätigkeitsorganisationen oder klimaneutrale Überwachungsapparate – tritt man nur noch über Einverständniserklärungen und Verschwiegenheitsklauseln in Verbindung. Der Jargon der durchweg jungen Leute ist eine Mischung aus Achtsamkeitsrhetorik und Zynismus. Nur Anja verfügt noch über so etwas wie Optimismus und Pragmatismus, die nicht auf Spekulation und Algorithmen basieren.
Anja entwickelt für die Firma, die auch ihre Vermieterin ist, selbstwachsende Dächer aus Knorpelmaterie. Allerdings ist ihr Institut nicht an Ergebnissen interessiert. "Wir machen nichts mit Gebrauchswert [...] Wir erforschen nur neue Konzepte ohne finale Anwendung!", macht sie Freunden klar. Sie trifft sie in einer faux-Kneipe, die früher von einem traurigen Ehepaar betrieben wurde, das noch auf DDR-Zeit gepolt war, und dann von energetischen jungen Franzosen gekauft wurde. Jetzt gibt es hier Kunstvideos am Freitagabend, aber cash only aus Glaubwürdigkeitsgründen. Nein, natürlich arbeitet sie nicht für die Pharmaindustrie, jedenfalls nicht direkt. Parallel liest eine Freundin auf dem Mobiltelefon online die Firmenphilosophie des Unternehmens vor: "Die besten und innovativsten Köpfe" quer durch alle Disziplinen haben sich dem "Wissensmanagement" verschrieben. Man habe entdeckt, "dass der Schlüssel zur Fortschritt der wissenschaftlicher Forschung nicht darin besteht, die Wissenschaft voranzutreiben, sondern Kreativität zu fördern."
Perfektes Mimikry der Bullshit-Prosa
Elvia Wilks Mimikry von Bullshit-Prosa ist fast zu nah an der Wirklichkeit, um Satire zu sein. Eric hat eine App entwickelt, die mit nicht monetarisierbaren Dingen handelt. Ein Plus-Eins für einen Abend im Club kann getauscht werden gegen einen zweiten Platz auf der Warteliste für ein Apartment in einer lahmen Gegend. Was welchen Wert hat, wird ständig neu ermittelt – die Dinge ändern sich schnell, wenn der Stadtteil plötzlich interessant wird oder der Club uncool.
Elvia Wilk hat in Berlin gelebt und für Kunstmagazine wie "Mousse", "Frieze" oder "Artforum" geschrieben. Diese App ist eins der vielen kleinen Meisterstücke in diesem hellsichtigen, intelligent gebauten Roman. Könnten dann, gibt die sympathische, empathische und reflektierte Hauptfigur Anja zu bedenken, sich dann nicht reiche Langweiler einfach einkaufen? Eric erwidert: "Und was ist so schlimm daran, wenn ein paar Reiche Leute Gästelistenplätze bekommen?" Viel wichtiger sei doch, dass die coolen Leute, die wenig Geld haben, ihre sozialen Kontakte endlich als Kapital verwenden könnten. "Es wirkt ein bisschen so, als würde die App einfach Beziehungen zu Waren machen", gibt Anja zu bedenken und fragt sich zugleich, ob sie das nicht schon mal irgendwo gehört hat.
Privilegien-Scham als Haupteigenschaft
Alles Erlebte und Gesagte ist zugleich auch schon Zitat, manche Gespräche verlaufen nur in Form von Sprüchen, und jeder ist so in hypothetische Erfolgsaussichten verstrickt und hat die Start-up-Logik derart verinnerlicht, dass niemand mehr zu wissen scheint, wie man mit realen Ereignissen umgeht, zum Beispiel mit dem Tod eines Elternteils. Ganz beiläufig zeichnet Elvia Wilk nach, wie Louis’ Nicht-Verhalten Anja so irritiert, dass sie insgeheim erst ihre Beziehung infrage stellt und schließlich sich selbst. "Oval" ist nicht nur eine hellwache Gegenwartsanalyse, sondern auch die Geschichte einer jungen, attraktiven Frau, die aus Scham über ihre Privilegien immer unter ihren Möglichkeiten bleibt.
Der idealistische, makellose, nie zweifelnde Louis entwickelt eine Tablette, die den Kapitalismus von innen aushöhlen soll. Der sei, sagt Louis, in jedermanns Gehirn angesiedelt, im Belohnungszentrum. Was wäre, wenn man stattdessen das Gehirn umprogrammierte, sodass verschenken und hergeben die Dopamin-Ausschüttung veranlasst statt anhäufen und verdienen? "Die Großzügigkeit ist im Gehirn schon angelegt, wir setzen sie nur frei!", sagt Louis im perfekten manipulativen Psycho-Sprech. Die Pille mit dem Namen "Oval" soll zunächst als neue Club-Droge in die Gesellschaft eingeschleust werden, darum darf sie "nicht zu corporate" aussehen. "Sie haben versucht, die Tablette zu ent-designen, nachdem sie sie designt hatten", erklärt Louis.
Praktikantinnen bei Porn Pals
Mit Leichtigkeit verwebt die Autorin die offenen Fragen der Gegenwart zu Prosa, von den Überwachungsstrategien des Smartliving, Gentrifizierung, Machtverhältnissen in prekären Kreativjobs bis zur Kapitalisierung der Gefühle. Die Stimmung ist beklemmend, doch ihre Art zu erzählen ist leicht und flüssig, fein durchsetzt mit Beobachtungen aus der Stadt. "Um erfolgreich based in Berlin zu sein", stellt Anja fest, "musstest du an anderen Orten berühmt sein." Als Anja nachts high durch einen Club stolpert, trifft sie im Pool im Keller zwei junge Frauen, die Praktikantinnen bei PornPals sind. Nichts daran wird aufgelöst, es sitzt trotzdem, weil keiner genau sagen kann, ob es PornPals nun schon gibt oder nicht.
Wenn alles Persönliche vermarktbar ist, ist auch immer das Dümmste, Egoistischste, Kindischste inklusive. Ein guter Freund von Anja, der stets durchgefeierte, immer druffe Dam, versorgt als Influencer seine Follower mit Wettervorhersagen. Blumige Umschreibungen, die an Kosmetikprodukt-Prosa erinnern, haben die gefühlte Temperatur abgelöst: "sabbernd nass / grelle Strahlen / Erdbeere". Dam sieht sich allerdings eines Abends außerstande auszugehen und haut darum schnell eine Unwetterwarnung raus. Warum, fragt Anja, das Wetter sei doch gar nicht schlecht. "Ich habe keine Lust, heute auszugehen und ich will nicht, dass irgendjemand ohne mich feiert."