Mutig holte sich der neue Direktor des Kasseler Fridericianums Christoph Büchel ins Haus. Der hat einen monströsen „Deutschland von unten“-Themenpark bei ihm abgeladen.

­­­Das Fridericianum in Kassel ist für immer geschlossen. Demnächst soll die Agentur für Arbeit einziehen. Jetzt sind die Fenster grob vernagelt, davor parkt ein Polizeiauto, die Vitrinen im Innern sind zerschlagen und geplündert worden. So weit, so bösartig der Blick in die Zukunft der Republik, wie der Installationskünstler Christoph Büchel sie sieht. „Deutsche Grammatik“ ist seine erste große Einzelausstellung in Deutschland, und er macht das älteste Museum Europas gleich mal dicht.
 

Richtig hässlich wird die Angelegenheit wegen der Zwischenmieter: Ein Billigladen („Mäc-Geiz, das clevere Warenhaus“) ist im Eingangsbereich eingezogen, man kann hier Heimtierstreu und Cockpitspray kaufen. Zwar ist der Shop als Ausstellungsraum seit Andy Warhol nichts Neues mehr, doch hier ist die „Brillo Box“ zur Billo-Box geworden und der gleißende Oberflächenschein der Pop-Warenwelt geschrumpft zur Tiefpreisästhetik des Abschwungs. Wer hier mit Heideggers Begrifflichkeiten das „Kunstwerk“ von dem bloßen „Zeug“, den naheliegenden und zweck­gebundenen Dingen, zu unterscheiden versucht, kommt ganz schön ins Schleudern.
In der Rotunde hinter dem Foyer steht ein drei Stockwerke hoher, künstlicher Weihnachtsbaum in einer Spielothek-Filiale, im Fernsehen läuft der Sender 9Live. Außerdem wirbt auf schäbigen Displays eine Tourismusmesse für Bundesländer („Thüringen – Provinz macht genial“). Trostloser kann die Innenstadt von Detroit auch nicht sein. Es gibt einen Fitnessraum und ein voll funktionstüchtiges Solarium mit dem typischen künstlichen Vanille-Exotik-Geruch. Das ist Deutschland von unten. Büchel hat wie immer gut beobachtet. Mit großer Begabung fürs Detail wurde dieser „Themenpark D“ zusammengestellt, aufwendig in die heiligen Hallen der Kunst eingeräumt und dadurch aufgeladen mit Bedeutsamkeit. Aber markieren Körperkult und Discounter wirklich die deutsche Wunde, in die dringend mal ein Finger gelegt werden muss? Ist schlechter Geschmack das Problem unserer Gesellschaft? Könnte man auch die Pendlerpauschale ausstellen?
 

Man kann natürlich sagen: Christoph Büchel zeigt bloß, was ist. Seit vielen Jahren ist der 1966 geborene Schweizer der interessanteste Querulant des Kunstbetriebs. Im Jahr 2000 versteigerte er seine Teilnahme an der Manifesta 4 auf eBay und wies darauf hin, dass man von Ausstellungsteilnahmen nicht leben kann. Auf der Art Basel/Miami Beach 2004 stellte er Faksimiles der Schecks aus, die von den USA als Mietzahlung für Guantánamo Bay nach Havanna geschickt, aber dort nicht eingelöst werden, und empfahl sich beim kubanischen Außenministerium als Nachmieter der Supermacht, die das Gelände unter rechtlich zweifelhaften Bedingungen besetzt hält. In Salzburg erlangte er, inkognito, per Unterschriftensammlung ein Referendum gegen Kunst im öffentlichen Raum („Salzburg, bleib frei!“). Büchels Arbeiten sind messerscharf und bitterböse, sie sind auf subtile Weise demonstrativ und deshalb so wirkungsvoll, weil sich unter seiner sparsamen Regie die Systeme selbst entlarven. Wie die „Parteienmesse“, die ebenfalls Teil der großen Simulation in Kassel war: Am Eröffnungswochenende sollten sich alle zugelassenen deutschen Parteien präsentieren, doch wegen der Teilnahme der NPD sagten die großen Parteien ab, Demokratie hin oder her. Stellvertretend schickten die Grünen eine Videobotschaft für ihren Stand: eindringliches Schulsprechergehabe auf Endlosschleife.
Einzigartig sind aber seine weniger streng konzeptionellen als vielmehr unkontrolliert wuchernden, großen Installationsarbeiten. Gewaltige Irrgärten, detailversessene Katastrophenszenarien aus dem Gedächtnis eines Manikers: Die Pension für illegale Saisonarbeiter, die er unter dem Titel „Simply Botiful“ in der Galerie Hauser & Wirth in London und anschließend auf der Art Basel zeigte, war ein zugleich realitätsversessenes und grotesk übersteigertes Interieur aus dem Abseits der Gesellschaft. Matratzen überall. Ein improvisiertes Bordell. Gebetsteppiche auf unverputztem Beton. Büchel arrangiert die Dinge mit großer Präzision und Glaubwürdigkeit als Schauplatz einer zutiefst beunruhigenden Schatten­ökonomie, wie der Filmausstatter eines düsteren, kalten Thrillers.
 

So arbeitet Büchel auch in den zwei faszinierendsten Teilen der Kasseler Ausstellung: Die kleine, vollgestopfte Wohnung des Hausmeisters, durch die absurderweise eine Mauer verläuft, ist eine Einzelausstellung für sich. In ihrem klaustrophobischen, kleinstteiligen Wahnwitz funktioniert sie völlig losgekoppelt von der restlichen, ambitiösen Deutschlandschau. Und die Gaststätte im ers­ten Stock, inklusive Kegelbahn und Ballsaal, als Rekonstruktion des ersten Domizils der Birthler-Behörde (die tatsächlich in einer Kneipe mit Kegelbahn eingerichtet wurde) ist ein geschichtliches Gruselkabinett, geschwängert vom kalten Rauch der Sisyphus­arbeit: Hier werden zerrissene Stasiakten wieder zusammengesetzt, unzählige Säcke, Schnipsel für Schnipsel. Was man davon noch lesen kann, stellt einem die Nackenhaare auf. Und ein biss­chen ist es, als sei das Universum von Büchel genau das: ein grenzenloses Ablagefach mit der Beschriftung „unerledigt“.
Das Künstlerbuch zur Ausstellung allerdings ist eine erratische Ansammlung von altem deutschen Boulevard-Trash aus Zeitschriften, der auch dadurch nicht relevanter wird, dass er in ein koreanisches Firmenverzeichnis aus den 70er-Jahren geklebt zu sein scheint. Ein bisschen wie die Herrenwitzsammlung von Richard Prince, ein wenig wie das Archiv von Peter Piller, aber lange nicht so scharfsichtig. Peter Frankenfeld? „Liebe ist ...“? Uschis Möpse? Ist ja gut. Am Ende fragt man sich, warum man seine Synapsen eigentlich mit so viel unnützem Plunder verstopfen sollte – kritische Inventur durch den neutralen Schweizer hin oder her. Man möchte sich gerne zwischen die Eingangssäulen des Fridericianums stellen und in die Ausstellung rufen: „Okay – ich bin Deutschland, und da gibt es sicher einiges zu optimieren. Aber du! Du bist Kunst! Du sollst mir etwas zeigen, das ich noch nicht weiß!“
 

Rein Wolfs, der neue Direktor des Fridericianums, hat mit Chris­toph Büchel als erste Einzelausstellung eine gute, mutige Entscheidung für einen der sperrigsten und spannendsten Künstler der Gegenwart getroffen. Doch der hat bei ihm vor allem einen riesigen Haufen Zeug abgeladen.