Künstler Michael Rakowitz

"Wenn Musik als Waffe instrumentalisiert wird, sieht man sie mit anderen Augen"

Michael Rakowitz  interessiert sich für das Schicksal von Kunst in politischen Konflikten. In Berlin zeigt er gerade einen Film über ein abgesagtes Konzert von Leonard Cohen in der palästinensischen Stadt Ramallah - der selbst zu Verwerfungen führte  
 

Michael Rakowitz, Ihre Ausstellung in der Berliner Galerie Barbara Wien erzählt eine bemerkenswerte Geschichte über den Sänger Leonard Cohen, voller Verbindungen und Unterbrechungen. Wie erzählen Sie sie?

Ich war 2009 in Jerusalem, für ein Projekt mit der Al Ma'mal Foundation for Contemporary Art. Am ersten Tag lud mich das Team ein, mit nach Ramallah zu fahren, zu der Premiere von Elia Suleimans Film "The Time that Remains" im Kulturpalast. Auf der Fahrt machte die Nachricht die Runde, dass am selben Ort bald Leonard Cohen auftreten sollte – wir waren alle sehr aufgeregt. Wenig später wurde jedoch bekannt, dass das Konzert aufgrund der palästinensischen Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels abgesagt worden war. Es hatte sich herausgestellt, dass das Konzert in Ramallah von Cohens Management nach der Ankündigung eines für September 2009 in Tel Aviv geplanten Konzerts organisiert worden war – wahrscheinlich, um zu erwartende Proteste abzuschwächen. Cohen hat eine große Anhängerschaft in der arabischen Welt, doch das Konzert wurde in Palästina als Versuch gesehen, den Unterdrückern wie den Unterdrückten zu gefallen. Das Schicksal von Kunst inmitten eines Konflikts hat mich schon in früheren Arbeiten beschäftigt.

Der Film ist ja so etwas wie eine Abrechnung mit Leonard Cohen – wenn auch eine sehr respektvolle und emotionale, bei der Sie als jüdischer Künstler einen anderen jüdischen Künstler adressieren. Sie sind mehr als nur ein Fan?

Ich war immer schon ein großer Bewunderer. Erst einige Monate zuvor hatte ich ihn in Chicago mit meiner Frau Lori live erlebt – das Konzert hat mich zutiefst berührt. Insbesondere als er eine Zeile aus dem Gedicht "A Thousand Kisses Deep" rezitierte: "I’m good at love, I’m good at hate, it’s inbetween I freeze." Als jemand, der mit Angstzuständen und Depressionen zu kämpfen hat, traf dies meine emotionalen Extreme und wie unbefriedigend die Mitte ist. Nach dem Konzert habe ich manisch recherchiert. Auf einer Leonard-Cohen-Fan-Seite fand ich im Message Board einen Beitrag, der schlicht "22. Oktober 1973" lautete – mein Geburtsdatum. Ich klickte darauf, und da war dieses Foto von Leonard, als er während des Jom-Kippur-Krieges für israelische Soldaten im Sinai singt. Rechts neben ihm steht Ariel Sharon. Ich war schockiert. Was hatte Cohen dort mit ihm zu suchen?

Wie lautet die Antwort?

Die Biografie "Various Positions" von Ira B. Nadel behandelt diese Zeit in Cohens Leben, darüber stieß ich auf ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel "The Final Revision of My Life in Art", wo seine Gedanken fast tagebuchartig wiedergegeben sind. Er beschreibt, wie er kurz vor Kriegsbeginn von Hydra nach Israel geflogen sei, um "Ägyptens Kugel zu stoppen". In einem Café wurde er von einer Gruppe israelischer Musiker entdeckt, die ihn einluden, mit ihnen durch israelische Militärstützpunkte zu touren und für die Truppen aufzutreten, um ihre Moral zu befeuern. Er entgegnete, dass seine Lieder traurig seien und sie den Krieg verlieren würden, wenn er sang. Er kam trotzdem mit, und die Erinnerungen an diese Auftritte zeichnen surreale Bilder, in denen ihn die Soldaten nachts mit Taschenlampen anstrahlen, während er singt und Gitarre spielt. Einmal unterbrechen sie Cohens Auftritt, feuern eine Kanone in Richtung Ägypten ab, und bitten ihn danach, doch weiterzumachen.

Was nehmen Sie aus diesem Bild mit?

Ich dachte an den elfjährigen Leonard, der mit der Realität des Holocausts konfrontiert wird und darüber, was dieser Krieg für ihn und die Juden auf der ganzen Welt bedeutet. Aber dann beschreibt er einen Vorfall, als er in Ismailia auf einem verlassenen ägyptischen Luftwaffenstützpunkt verwundete und tote Männer sieht und zu weinen beginnt. Ein israelischer Offizier kommt auf ihn zu und sagt: "Sei nicht traurig, das sind Ägypter." Er schreibt, dass ihn "sein Gefühl der Erleichterung verstört habe". Für mich bringt dieser Moment die ethische Krise der Juden nach dem Holocaust zum Ausdruck.

Was sollte dieses Dilemma hervorbringen, welche Form würde die Geschichte annehmen?

Ich dachte an eine filmische Umsetzung, bei der ein Schauspieler als Surrogat für Cohen fungiert. Ursprünglich wollte ich im Chelsea Hotel drehen, doch angesichts der beiden Konzerte im Jahr 2009 – das in Tel Aviv und das abgesagte Konzert in Ramallah – wurde mir klar, dass die Geschichte noch nicht abgeschlossen war, und dass wahrscheinlich auch er mit dieser Situation rang. Es gibt ältere Gedichte, in denen er kritisch zu Israel steht. Ich kam zu dem Schluss, dass es interessanter wäre, Leonard nach Ramallah zu bringen. Und ich fragte mich, wie seine Songs trotz der Absage dort weiterleben könnten. Als Künstler, der 2006 den akademischen und kulturellen Boykott Israels unterschrieben hat, habe ich mich positioniert, nicht in Israel aufzutreten. Im Boykott wird Kunst durch Politik verhindert, mich aber interessiert das Potential von Kunst, Politik zu umgehen. Vielleicht könnte ich das Gefäß sein, das Cohens Musik nach Palästina trägt.

Haben Sie Leonard Cohen in Ihre Pläne einbezogen?

2013 erstand ich im Internet von einem Berliner Händler Cohens Schreibmaschine Olivetti Lettera 22, und fing an, mein Drehbuch auf dieser zu schreiben. Doch dann dachte ich, ich sollte dem Mann, dem sie einst gehörte, darauf schreiben und ihn um Erlaubnis bitten, seine Songs in Ramallah zu singen. Es sollte nicht einfach nur ein Brief sein, sondern ein Textstück, in dem ich "mit meinen Engeln ringe". Ich habe ihn abgeschickt, aber nie eine Antwort erhalten. 2015 kontaktierte mich dann das Musée d'art contemporain de Montréal. Sie hatten von der Schreibmaschine und dem Skript erfahren und luden mich ein, das Projekt für eine Ausstellung zu Cohens Ehren fertigzustellen, die für 2017 als Teil einer Feier zum 375-jährigen Bestehen von Québec geplant war. Es war Leonards Wunsch, dass die Ausstellung keine Seligsprechung sein sollte, sondern dass die Beteiligten kritisch auf sein Werk reagieren, und er gewährte allen die Lizenz zur Verwendung seiner Lieder. Doch dann verstarb er leider 2016.

Der Weg nach Ramallah verlief auch nicht ohne Hindernisse...

Ich reiste mit meinem Co-Regisseur und Cutter, Robert Chase Heishman, und meinem Freund Marc Joseph Berg, der Leonard geradezu unheimlich ähnlich sieht, nach Ramallah, um den Film im Alhambra Palace Hotel drehen, eine Art Pendant zum Chelsea Hotel, wo im letzten Jahrhundert viele Musiker und Schauspieler residierten. Wir trafen uns mit Musikern aus Jerusalem und Ramallah, um für das Konzert zu proben, das einige Tage vor der Eröffnung in Montreal stattfinden sollte. Doch plötzlich kam Unruhe bei den palästinensischen Musikern auf. Auf dem Ben-Gurion-Flughafen wurden eine Reihe von Wandbildern installiert, die 120 Jahre Zionismus feierten. Eine dieser Bildcollagen zeigt Benjamin Netanyahu, wie er vor dem American Israeli Public Affairs Committee spricht. Gleich darunter ist eines der Fotos vom 22. Oktober 1973 zu sehen, auf dem Leonard für die Soldaten spielt. Etwa zur selben Zeit hatte eine israelische Online-Zeitung namens "Walla" einen Artikel veröffentlicht, wonach die israelische Armee Leonard Cohen-Songs verwendet hätte, um palästinensische politische Gefangene zu foltern, indem sie sie im Loop abspielten. Natürlich fühlten sich die Musiker daraufhin sehr unwohl. Und damit war es im Grunde genommen zu Ende. Das Konzert wurde wieder abgesagt. Wenn Musik als Waffe instrumentalisiert wird, sieht man sie mit anderen Augen.

Und dann?

Für den Film habe ich alle Instrumentalversionen der Cohen-Songs eingespielt, wofür ich zwei Jahre lang seine Arpeggios von einem Flamenco-Gitarristen gelernt hatte. Die Version, die in Montréal gezeigt wurde, endet damit, dass ich Leonards "If It Be Your Will" vor einem leeren Saal singe. Der Text bringt für mich die Situation auf den Punkt: Wenn du willst, dass ich singe, werde ich singen. Wenn es zu schmerzhaft ist, werde ich es nicht tun. Es gibt eine Wahl.

In dieser Version, die hier in Berlin gezeigt wird, fehlt die Musik – was ist geschehen?

Als die Ausstellung in Montréal eröffnet wurde, war Cohens Manager ziemlich verärgert über den Film, er erklärte ihn als "unvollständig". Die Kuratoren überzeugten ihn, das Werk nicht aus der Ausstellung zu nehmen. Die nächste Station der Schau sollte das Jüdische Museum in New York sein. Der Manager verlangte, dass das Werk überarbeitet werden müsse, um seine Seite der Geschichte zu erzählen, sonst würde die Lizenz für die Verwendung der Musik zurückgezogen. Außerdem müsse das Konzert in Palästina stattfinden. Ich war jedoch nicht bereit, mein Projekt unter diesen Bedingungen zu verbiegen.

Wieso nicht?

Seine Seite der Geschichte ist, dass das Konzert in Tel Aviv erfolgreich Geld für eine gut gemeinte Initiative für "Frieden und Toleranz" gesammelt hat, was an der Sache vorbei geht: Es weist den Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft an Künstler wie Leonard Cohen komplett zurück, sich mit dem palästinensischen Volk zu solidarisieren, indem sie sich weigern, an Veranstaltungen teilzunehmen, die Israels Verbrechen beschönigen und eine Politik normalisieren, die Palästinenser weiterhin entmenschlicht, enteignet und tötet. Und ich hatte nicht vor, den Menschen in Palästina Leonards Songs um die Ohren zu hauen, wenn dies zu schmerzhaft ist – obwohl seine Musik und Poesie in diesem Teil der Welt sehr geliebt wird, was ich auch in der Ausstellung zeige. Das Projekt befindet sich momentan in einem beschädigten Zustand. Durch das Entfernen der Lieder fehlen entscheidende Elemente und wurden zum Schweigen gebracht – zwölf von 32 Minuten. Ich nenne es eine Ruine.

Das, was fehlt, spielt in Ihrer gesamten Praxis eine zentrale Rolle. In der seit 2007 fortlaufenden Arbeit "The invisible enemy should not exist", die in dieser Ausstellung auch vertreten ist, haben Sie Artefakte wieder auferstehen lassen, die seit der US-geführten Invasion im Jahr 2003 aus dem Irakischen Nationalmuseum in Bagdad und anderen archäologischen Stätten als zerstört oder gestohlen gelten. Sie kommen als Geister zurück, wie Sie sagen. Auch hier hat die Lücke wiederum Raum für andere Stimmen geschaffen...

Ich habe über diese Lücken und das Schweigen nachgedacht, und über die Worte von Cohens Manager, dass das Werk "unvollständig" sei. Ich schrieb zurück, dass es nicht unvollständig, sondern unvollkommen ist. Ich bin Bildhauer, wenn ich an Skulptur denke, denke ich an Druck. Der Druck der Hände formt den Ton, der Hammer trifft auf den Meißel, der Meißel auf den Stein, es entsteht eine Form. Der politische und rechtliche Druck hat dieses Werk geformt.

Die Filmbilder sind also dieselben, aber die Tonspur musste geändert werden.

Ich fragte mich, wie es sich anfühlt, wenn ein Teil der Sinneswahrnehmung fehlt. Im Film gibt es etwas, was man deskriptiven Ton nennt, wenn das, was man nicht sehen kann, in Worten erklärt wird. Ich suchte nach einer anderen Art von beschreibendem Ton, der die Lücken füllen und über die Stille sprechen würde. Ich habe drei Menschen, die mir sehr nahe stehen, gebeten, diese Lücken zu füllen: Lama Altakruri, eine junge Künstlerin, die ich in Ramallah unterrichten durfte, wählte den Anfang, wo Leonard um das Haus herumgeht, in dem sich bis 2017 die Internationale Palästinensische Akademie befand. Eyal Weizman, dessen Stimme bereits zu Francis Alys' Film "The Green Line" beigetragen hat, dachte an das Lied "Lover, Lover, Lover", das während Leonards Zeit in Israel entstand. Emily Jacir wählte das Ende, an dem ich "If it be your will" vor einem leeren Auditorium singe. Die Szene war inspiriert von Emilys Arbeit "Entry Denied", in der es ebenfalls um ein Konzert geht, das nicht stattfinden konnte.

Wird sich das Projekt in seinem jetzigen Zustand der Unvollkommenheit weiter verändern?

Ich denke, dass die Arbeit unweigerlich weitergeht, und es ist nicht zu erwarten, dass sie unangefochten bleiben wird. Ich hoffe, dass dieses Konzert eines Tages möglich sein wird. Bis dahin halte ich mich an die Bedingungen des Boykotts. Aber, um es in jüdischen Begriffen auszudrücken, betrachte ich den Boykott auch als eine Art Fasten. Ein Jom-Kippur-Fasten soll nicht einfach sein, es ist ein Akt der Buße, der Meditation und der Verantwortung. Aber Fasten ist auch wie Boykott. Es ist – inshallah – vorübergehend und wird gebrochen, damit wir wieder gemeinsam essen können.