Am Anfang war das Licht, wenigstens was den Ursprung der modernen Malerei angeht. Das Licht der Impressionisten bereitete den Boden für die Befreiung von Farbe und Form aus den Fesseln der Gegenständlichkeit, so jedenfalls lehrt es die gängige Kunstgeschichte. Man könnte die Geschichte aber auch ganz anders erzählen. "Wir sagen, Babys erblicken das Licht der Welt", meint Pierre Soulages. "Aber ich bin mir da nicht so sicher. Das Erste, was wir sehen, ist Schwarz – denn das Leben beginnt ja schon vorher, im Dunkel des Mutterleibs."
Intensiver als jeder Künstler vor ihm hat der französische Maler die Farbe Schwarz erforscht, und noch heute malt er jeden Tag an einem schwarzen Bild. Mehr als 1600 Gemälde umfasst sein Werk, und es wären erheblich mehr, würde Soulages nicht regelmäßig in seinem Atelier Leinwände verbrennen, die er für nicht gelungen hält. 1979, mehr als 30 Jahre nach seinem internationalen Durchbruch, entdeckte er ein Phänomen im Umgang mit seiner bevorzugten Farbe, das er "Outre noir" nannte: Allein in den Lichtreflexen auf den schwarzen Oberflächen spielen seitdem seine abstrakten Kompositionen.
Losgelöst aus dem Dialog mit anderen Farben, entwickelt das Schwarz eine jenseitige Qualität. Das monumentale Schweigen, das seine Leinwände auf den ersten Blick ausstrahlen, verstummt tatsächlich nie: In Relation zu Lichteinfall und Betrachtungswinkel entspinnen sich in den feinen Strukturen des Farbauftrags endlose Variationen.
Seit 60 Jahren leben und arbeiten Pierre Soulages und seine Frau Colette hoch über dem kleinen südfranzösischen Küstenort Sète in ihrem selbst entworfenen Wohn-und-Atelier-Haus, das es in seiner funktionalen Schönheit mit jedem architektonischen Meisterwerk des Mid-Century-Modernismus aufnehmen kann. Himmel und Meer zeigen sich durch die breiten Fenster und von der Terrasse aus wie abstrakte Farbflächen. Wie seine Bilder scheint dieser Ort gleichsam über die Zeit hinauszublicken. Und wie die Gemälde macht es jeden Lichtwechsel wie durch ein Vergrößerungsglas erlebbar. "Meine offizielle Adresse ist eigentlich Paris", sagt Soulages zur Begrüßung. "Es gibt hier ein Atelier, ich habe ganz schön viel Platz. Wir sind hier seit 60 Jahren, nichts hat sich geändert ..."
"Wir haben einen leeren Horizont gekauft"
In den späten 50er-Jahren war der junge, aber bereits erfolgreiche Maler auf der Suche nach einem Haus im Süden. Als die Pariser Freunde fragten, ob er denn nun sein Häuschen gefunden habe, antworte er nur: "Wir haben einen leeren Horizont gekauft." Auf dem Geländeplan skizzierten er und Colette ihre Bedürfnisse,die Ausrichtung der Räume diktierte der Tagesablauf. "Das Schlafzimmer sollte im Osten sein, denn da geht die Sonne auf, sie soll morgens auf das Bett scheinen. Dann habe ich eine Art Mulde gefunden und mir gesagt: Das ist doch der geeignete Platz für das Atelier. Ich mag nicht, wenn das Atelier im Mittelpunkt steht und einen Rundumblick hat. Ich bevorzuge Ateliers, in denen man sich eher geborgen fühlt, mehr nach innen blickt als nach außen." Einige Räume sind nur durch kurze Außenwege zu erreichen, was die Verbundenheit mit der Natur noch erhöht.
Auf der Terrasse erden Schieferplatten die Helligkeit und ändern ihre Färbung im Licht wie das Meer. Das nach Süden ausgerichtete Haus lässt die Sonne im Winter in die hinterste Zimmerecke scheinen und im Sommer nicht. Der Mistral aus dem Nordwesten fegt über die Bewohner hinweg. Als sich Soulages 1958 hier ansiedelte, war er in seinen späten 30ern und bereits das, was man heute einen internationalen Kunststar nennen würde. Seinen ersten Auslandserfolg feierte er 1948 mit einer Tourneeausstellung "junger französischer Malerei", die der Arzt, Mäzen und spätere Filmavantgardist Ottomar Domnick kuratiert hatte. "Es war ein großes Glück, dass ich zunächst in Deutschland bekannt wurde", erinnert er sich im Gespräch.
"Der Krieg hat mir einige Zeit genommen, ich habe ihn mit falschen Papieren überstanden, auf denen ich mich als Italiener ausgab. Ich war 28 Jahre – und da war ich! Die anderen Maler in der Ausstellung waren mindestens 25 Jahre älter als ich.Ich werde nie vergessen, dass meine Malerei zuerst von Ausländern entdeckt wurde. Allerdings stimmt das nicht ganz, denn davor waren es doch die Franzosen. Aber die haben mich unter dem Begriff 'nicht figurativ' einsortiert. Das hat mich aufgeregt und regt mich noch immer auf. Eine Kunstrichtung, die mit einer Verneinung beginnt, erschien mir geradezu lächerlich." Auch die Namen der später mit Soulages’ Bildern verbundenen Kunstströmungen schienen kaum zu passen. Für das Informel sind sie zu formbewusst, für den Tachismus fehlt ihnen das Flüchtige – und für den Abstrakten Expressionismus das Exponiert-Gestische.
Seine mit breitem Pinsel in tief nuancierter Nussbeize geschaffenen Werke aus dieser Zeit wirken einerseits rhythmisch, andererseits gibt ihnen die Farbtiefe etwas Introvertiertes. Tiefe Rot- und Blautöne spielen in den bereits vom Schwarz dominierten Bildern oft prominente Nebenrollen. Soulages’ Liebe zum Schwarz ist allerdings weit älter.
"Ich nahm lieber das Tintenfass"
"Als ich klein war – das ist kein Scherz –, bot man mir Farben an, aber ich nahm lieber das Tintenfass. Und dann – das hat man mir später erzählt, ich war noch zu klein, um mich zu erinnern – wurde ich gefragt, was ich da male, so wie man das alle Kinder fragt: 'Ist das ein Haus? Was ist das?' – 'Das ist Schnee', habe ich gesagt. Darüber haben alle gelacht, aber ich meinte es ernst. Es war keine Provokation, aber doch merkwürdig: Ich glaube, es war der Versuch, das Blatt Papier weißer zu machen, indem man Schwarz daneben platziert. Das ist ja so: Wenn man in eine Ecke Schwarz setzt, dann wirkt es heller. Ich glaube, das wird es gewesen sein. Ich hatte natürlich keine Ahnung, aber schon meinen eigenen Willen."
1919 wurde Soulages in der südfranzösischen Kleinstadt Rodez geboren, wo seit 2014 ein gewaltiges Museum seinen Namen trägt. In seiner Kindheit beeindruckt ihn in der Stadt die türlose Fassade der örtlichen Kathedrale als eine frühe abstrakte Bilderfahrung. Noch prägender ist für den 14-Jährigen ein Schulausflug in die Klosterkirche Sainte-Foy in Conques. Das strenge und doch sich im Lichteinfall wandelnde Spiel von Licht und Schatten lässt Soulages noch an Ort und Stelle beschließen, Künstler zu werden. 50 Jahre später wird er den Auftrag für 104 neue Glasfenster der Klosterkirche annehmen. Als das Ensemble in achtjähriger Arbeit 1994 vollendet ist, gefällt es in seiner Balance aus Reduktion und Lebendigkeit nicht nur den Benediktinern.
Es ist zweifellos Sou lages’ mächtigstes Einzelwerk – und vielleicht auch sein innovativstes: Das selbst entwickelte Mattglas, das je nach einfallendem Tageslicht zwischen Weiß und Gelbbraun variiert, ist nur einer der vielen Werkstoffe, die Soulages in seiner langen Karriere für sich erfunden hat. Im Atelier in Sète hütet ein junger Assistent die Rezeptur für die schwarze Farbe wie ein Geheimnis. Es ist Elfenbeinschwarz mit Harz versetzt, so viel ist bekannt. "Ich präpariere die Leinwände und mache alles, was damit zusammenhängt – außer zu malen", sagt Mohammed. Er sieht sich selbst nicht als Künstler, gehört aber zur örtlichen Graffiti-Szene. "Wenn Soulages malt, hat er die gleichen Moves wie ein Graffiti-Maler", beschreibt er bewundernd seinen 99-jährigen Arbeitgeber. Viele Zeugen gibt es für Soulages’ Arbeitsweise nicht, er ist berühmt dafür, allein zu malen. "Er hört nicht einmal Musik, wenn er arbeitet", erklärt Colette.
In den letzten Jahren entstanden einige Dokumentarfilme, aber auch sie enthüllen über den Arbeitsprozess fast nichts. Eines der wenigen aussagekräftigen Dokumente ist ein literarischer Text eines engen Freundes, des französischen Romanautors Roger Vailland. Minutiös beschreibt Vailland in "Comment travaille Pierre Soulages" einen typischen Arbeitstag im Jahr 1961: die Wahl der Farben, die Verwendung spezieller Werkzeuge, etwa eines Schustergummis, die Gesten, das Zögern. Als Vailland zu Soulages sagt, er tanze, antwortet dieser: "Vielleicht. Aber mein Bild wird davon nichts verraten. Ich bedecke und enthülle Oberflächen. Ich zeichne keine Linien, die dem Betrachter die Bewegung meiner Hand verraten."
Darin unterschied sich Soulages schon damals von vielen seiner Zeitgenossen zwischen Informel und Action Painting. Mehr als ein Ausdruck von Stimmungen oder innerer Befindlichkeit ist Soulages ein Komponist, der in einem ständigen Dialog mit seiner Arbeit agiert. "Es kommt vor, dass ich eine Arbeit beginne und möchte, dass sie klein wird – und dann wird sie immer größer, am Ende misst sie drei Meter. Es gibt Geistesblitze, 100 Jahre alte Geistesblitze ... Es ist beängstigend. Es gibt Dinge, die ich aufgebe, aber die ich nicht aussortiere. Ich sehe sie sechs Monate später wieder an und entdecke etwas, das ich vorher nicht gesehen habe. Es geht darum, Ordnung in die Improvisation zu bringen."
Colette ergänzt: "Der große Maler: Das hat auch mit Zufall zu tun!" – "Der Zufall spielt eine Rolle, es gibt Begegnungen", bestätigt er. Der deutsche Galerist Karsten Greve, der Soulages seit 20 Jahren vertritt, liebt die späteren Arbeiten am meisten: "Das Outre noir ist für mich der vollkommene Soulages." Doch noch immer sind es die ikonischen Bilder der späten 50er-Jahre, die bei Auktionen die höchsten Preise erzielen, knapp elf Millionen Dollar waren es 2018 für "Peinture 186 x 143 cm, 23 Decembre 1959", in dem ein sattes Rot unter dem dominanten Schwarz herausbricht.
Soulages als eigenständige Position neben Kline und Pollock
Kein abstrakter Maler aus Europa genoss auf dem New Yorker Kunstmarkt der 50er-Jahre größere Prominenz. Gefeiert bei den ersten beiden Documentas, erlebte Soulages bei seinem dritten Besuch in Kassel 1964 aber auch, wie er mitsamt der Nachkriegsabstraktion plötzlich einer Pauschalkritik ausgesetzt wurde. In der "Zeit" schrieb der Kunsthistoriker Wieland Schmied: "Nur die voreilige Interpretation dieser schwarzen Strichbündel oder verknoteten Balken als Wegweiser in die viel zitierte vierte Dimension hat diese Täuschung erst so spät offensichtlich werden lassen. Eine Tatsache, die mit tiefem Bedauern konstatiert sei."
Doch während die meisten der sogenannten Abstrakten Expressionisten tatsächlich in Vergessenheit gerieten, behauptete sich Soulages als eigenständige Position neben den Amerikanern Franz Kline und Jackson Pollock. Besonders beliebt waren seine stets nur mit Größe und Datum bezeichneten Bilder in den Sammlungen von Menschen, die wissen, wie man aus Licht und Dunkel große Dramen schafft: Mit Alfred Hitchcock, Billy Wilder, Otto Preminger und Charles Laughton gehörten einige der größten Hollywood-Regisseure zu seinen Käufern. Vor einiger Zeit, erzählt er, sei Jean-Luc Godard bei ihm gewesen – und habe ihm ein Rätsel aufgegeben. "Er ist einfach vorbeigekommen. Das Einzige, was er gesagt hat, war: 'Ich werde mich erinnern.' Was soll das bedeuten? Ich habe ihn nicht wiedergesehen."
Und was bedeutet das Kino wiederum für Soulages? "Meine derzeitige Beziehung zum Kino ist etwas unbefriedigend, weil ich nicht oft genug ins Kino gehe. Und dennoch ist es etwas, das mich stark beschäftigt. Und zwar nicht nur, weil es da um Licht geht, es ist viel komplexer. Das Kino bedeutet für mich Zeit, Ton und Raum. Anderseits geht es in meiner Malerei gleichwohl um Raum, aber auf eine sehr spezifische Weise. In der Malerei, die ich mache, so wie ich meine Gemälde betrachte oder während ich sie male, ist es das Licht, das vom Bild zu mir kommt. Man sagt, das Schwarz steigt auf. Wenn es nur schwarz wäre – aber wenn ich etwas sehe, ist es nicht das Schwarz: Es gibt einen winzigen Teil Licht, der reflektiert wird. Also ist das, was ich sehe, das Licht, das vom Bild in meine Richtung strahlt." An diesem Nachmittag in Sète füllt Soulages mit großer Leidenschaft die Vermittlerrolle einer Malerei aus, die den Begriff Abstraktion längst hinter sich gelassen hat.
"Der Betrachter ist stets ein Teil eines Bildes"
"Die gegenständliche Malerei produziert etwas Imaginäres, während das, was bei meiner Malerei entsteht, konkret ist. Der Raum meiner Gemälde ist nicht nur das, was hinter der Oberfläche liegt. Es ist das, was man davor sieht, das, was ich sehe. Stets werde ich mit dem Schwarz in Verbindung gebracht, aber mich interessiert gar nicht das Schwarz an sich. Wenn ich den Raum meiner Bilder ansehe, gibt es die Leinwand, und es gibt mich, der sie betrachtet, ich bin dann im Raum des Bildes. Und wenn ich woanders hingehe, ist es nicht mehr dieselbe Leinwand, weil sie sich verändert hat. Es ändert sich immer alles mit dem Betrachter. Der Betrachter ist stets ein Teil eines Bildes."
Das Erlebnis von Soulages’ Kunst ist zumindest in Frankreich zu einem Massenphänomen geworden. 500 000 Zuschauer fand die große Retrospektive, die ihm das Centre Pompidou vor zehn Jahren zu seinem 90. Geburtstag ausrichtete. Zu seinem 100. Geburtstag wird ihm der Louvre im Winter eine Ausstellung ausrichten. "Man möchte mein Werk im wichtigsten Saal des Louvre zeigen, es ist der Salon Carré, wo sich auch Giotto befindet, alles, was als Renaissance bezeichnet wird. Die Renaissance interessiert mich nicht. Ich habe mich mehr mit der Frühgeschichte, dem Mittelalter und romanischer Kunst beschäftigt. Genau wie meine Frau, so sind wir einander begegnet. Sie hat den gleichen Geschmack wie ich. Ich lebe mit ihr seit 76 Jahren!"
Auch bei dem schließlich zweieinhalbstündigen Gespräch ist Colette Soulages die ganze Zeit dabei. Und sicher nicht zum ersten Mal hört sie ihren Mann dem neugierigen Besucher die Geschichte ihres Kennenlernens erzählen. "Nach dem Ende der Besatzung habe ich gesehen, dass die École des Beaux-Arts in Montpellier wieder geöffnet war, und wollte dort Zeichenlehrer werden. Im Kunstmuseum der Stadt bin ich meiner Frau das erste Mal begegnet, als ich gerade zeichnete. Da war ein Mädchen, ein sehr originelles Mädchen, und sah meine Zeichnung. Drei Tage lang sagte ich zu ihr: 'Guten Tag, Mademoiselle.' Eines Tages stand sie vor dem Naturkundemuseum in Montpellier, das war früher die École des Beaux-Arts. Sie sagte gerade zu einigen Leuten: 'Unsinn! Picasso, das ist doch keine Malerei.' Ich widersprach und sagte: 'Doch, er ist ein sehr großer Maler.' Sie kannte ihn persönlich, durch irgendeinen Zufall. Und dann sagte ich zu ihr: 'Hören Sie, man sollte nicht missionieren.' Ich ging ins Museum, und sie hat mich dann begleitet. Wir haben festgestellt, dass wir den gleichen Geschmackhaben, das ist sehr selten. Die Kunst des Mittelalters, die romanische Kunst im Besonderen, romanische Malereien, die auch heutzutage wenige kennen. Wir blieben zunächst Freunde, mehr nicht. Und dann wurde mir klar, dass alle Freundinnen, die ich zuvor hatte, nichts mit dem zu tun hatten. Mit ihr war es anders, sie hatte genau den gleichen Geschmack, und unsere Diskussionen waren interessant."
"Das, was ich mache, zeigt mir, was ich suche"
Man hat Soulages, diesen hochgewachsenen, kräftigen, stets schwarz gekleideten Mann, als "cäsarenhaft" beschrieben, doch seine Vitalität hat nichts Herrschaftliches. Als junger Mann war er ein Rebell, der die Pariser Kunstakademie schon am Tag der bestandenen Aufnahmeprüfung schmiss, weil sie ihm zu konservativ war. Etwas jungenhaft Unangepasstes ist ihm geblieben, besonders dann, wenn es romantisch wird: "Wir beschlossen zusammenzuleben, das war ganz interessant. Wir heirateten. Der Familie wegen musste man das damals. Hart, aber so war es nun mal. In meiner Familie sagten sie: 'Er ist völlig verrückt, das wird nicht länger als drei Monate halten, wenn man an all seine anderen Beziehungen denkt.'" Und was hält Colette für das Geheimnis der Ausdauer ihres Mannes?
"Er hat einige Leidenschaften, die für die Malerei und, wie soll ich es ausdrücken, Entdeckungen trifft es nicht ganz. Er hat einmal etwas gesagt, was ich entscheidend finde: 'Das, was ich mache, zeigt mir, was ich suche.'" Das sei ein Schlüsselsatz, bestätigt Pierre Soulages: "Das, was ich mache, lehrt mich: Das ist es. Es ist eine Art zu denken. Ich weiß nicht, warum ich es mache, und dann plötzlich entdecke ich etwas, an das ich zuvor niemals gedacht habe. Aber es ist da, und es ist etwas, wovon ich ausgehen kann, eine Richtung, in der ich weiterarbeiten kann. Ich interessiere mich auch sehr für Forschung. Gerade machte mein Freund, der Physiker David Quéré, eine erstaunliche Entdeckung …"
"Oft suchen die Menschen nur das, was sie ohnehin schon wissen"
Der Pariser Wissenschaftler hat das Geheimnis entschlüsselt, warum sich Wassertropfen auf heißen Kochplatten bewegen. "Es gibt eine innere Rotation in Wassertropfen von einem Millimeter Durchmesser", beginnt Soulages den komplexen Sachverhalt zu erläutern, und man bekommt eine Ahnung davon, wie sehr ihn die Entwicklung der Glasfenster für Conques mit ihrer speziellen Lichtbrechung beschäftigt haben muss. Zurzeit spürt Soulages wieder ein gesteigertes Interesse an seiner Kunst. "Im Moment widmet man mir Ausstellungen, nur weil ich 100 Jahre alt werde", sagt Soulages. "Was mich freut, ist, wenn es die Leute dazu bringt, meine Malerei anders zu betrachten als üblicherweise. Denn oft suchen die Menschen nur das, was sie ohnehin schon wissen. Lieber ist es mir, dass sie so sind wie ich, wenn ich Dinge aus der Frühgeschichte ansehe."
Bis heute arbeitet der Künstler noch stundenweise in seinem Atelier. "Wir leben recht einsam, haben aber trotzdem einige Freunde", erklärt Colette. "Früher gab es auch Maler darunter, aber Pierre hat den Kontakt zu den meisten abgebrochen, als er noch sehr jung war ... na ja, die Zeit vergeht, unsere Freunde aus dieser Zeit sind gestorben, mittlerweile haben wir junge Freunde, junge Künstler, sie interessieren sich für Pierres Malerei und sind empfänglich dafür. Es gab neulich einen Film auf Arte, da stellte der Regisseur Kindern im Museum von Montpellier Fragen vor einem von Pierres 'Outrenoir'-Bildern. Er hat gefragt: 'Wenn ihr dem Maler Soulages etwas sagen könntet, was würdet ihr ihm sagen?' Und ein Kind rief: 'Ich würde ihm sagen: Machen Sie weiter!'" Eine Bitte, die ihm Pierre Soulages, der am 24. Dezember 100 wird, sehr gern erfüllt.
Dieser Text ist zuerst in Monopol 04/2019 erschienen