Irgendwas fehlt, wenn man das meiste im Blick hat: Mit Silent Writings wird in Paris das geschriebene Wort dechiffriert

Der Satz hält sich einen Moment: „Sprache ist das innere Wesen der Zivilisation.“ Er bläht sich noch etwas auf, dann verschwindet er, um einem neuen Sinngeber Platz zu machen. In der Rotunde des Espace Culturel Louis Vuitton, elegant im siebten Stock der Luxusboutique an der Champs-Élysées gelegen, projiziert Barbara Kruger ein Panorama von Aphorismen. Sie wandern, tanzen, zerspringen auf der Wand.
Direktorin Marie-Ange Moulonguet will mit drei Ausstellungen pro Jahr „nicht einfach Künstler zeigen, sondern Sinn erzeugen, Bezüge schaffen“. Vor allem zu Vuitton selbst, seiner Kultur- und Reisebegeisterung. Seine Unterstützung der Rapa-Nui-Stiftung war jetzt Anlass, 16 zeitgenössische Künstler zum Dialog mit rund 300 Jahre alten Rongorongo-Schrifttafeln von den Oster-inseln einzuladen. In die teils intensiven Werkerfahrungen mischt sich beim Gang durch die schönen Räume der Unterton des ambitionierten Luxusprojekts. Doch die 2006 eröffnete Kulturetage des Unternehmens findet den richtigen Weg zum Impulsgeber im Pariser Kunstbetrieb: vom Image zu Fragen des Bildes.
Thema ist das Rätsel der Schrift. Effektvoll antwortet Lawrence Weiners Wandbeschriftung auf die urtümlichen Glyphen der Rapa Nui. „In view of most“ liest man da: „das Meiste im Blick“. Was aber fehlt? Da öffnet sich Raum für Imaginäres. Jenny Holzer nutzt die Lücken drastisch. Die Siebdrucke von „My Government (BLUE)“ (2007) zeigen zensierte Briefe in Sachen Guantánamo-Gefangener. Claude Closkys „Alphabet“ in Gestalt eines Freskos fiktiver Buchstaben, das archaische Objekt von Giuseppe Penone oder die Körperabdrücke Ernesto Netos inszenieren das Verlangen der Zeichen nach körperlicher Präsenz. Bevor es zu pathetisch wird, bringt Robin Rhodes Animationsfilm „Promenade“ (2008) Zeichen und Bild wieder tanzend in Bewegung. So setzt die Schau „Silent Writings“ die Macht der Sprache ins Bild. Und öffnet souverän den Weg aus der Welt des „I shop, therefore I am“.

 

Espace Louis Vuitton, Paris, bis 23. August