Ian Cheng in München

Simulationen, die das Leben enthalten

Der Espace Louis Vuitton in München zeigt die verstörenden Videoinstallationen von Ian Cheng

"Verhalten" nennt Ian Cheng das Medium seiner Wahl. Nicht Installation oder Video, nein, Verhalten. Nimmt man eine frühe Arbeit wie "Thousand Islands Thousand Laws" – früh, das heißt hier 2013 –, so wird deutlich, was Cheng, der neben Kunst auch Kognitionswissenschaft studiert hat, damit meint. Das Kunstwerk sieht zunächst einmal aus wie ein Computerspiel, das aus dem Ruder gelaufen ist: glitchy und buggy, flackernd und stotternd. Ein Mann mit Pistole watet durchs Wasser, um seinen Kopf pfeifen schwarze Balken, ein Schwarm von Reihern steht neben einer Insel aus Topfpflanzen. Figuren schieben sich ineinander und entzerren sich wieder. Auf der Tonspur zirpt, fiept und stolpert es vor sich hin, als hätte man einen Dreiminutentrack in 30 Sekunden gequetscht, und die Perspektive wechselt permanent: Wer hier von wo auf was oder wen guckt, ist unmöglich auszumachen.

"Thousand Islands Thousand Laws", das im Rahmen des "Kino der Kunst"-Festivals in Chengs Einzelausstellung "Emissary Forks featuring 'Thousand Islands'" im Espace Louis Vuitton in München zu sehen ist, ist weder Computerspiel noch Video, sondern eine "Live-Simulation": eine simulierte, geschlossene Welt ohne Anfang und Ende, eine Art Ökosystem, in dem einzelne Elemente mit bestimmten programmierten Eigenschaften sich selbst überlassen werden. Sie reagieren miteinander, und auch wenn das Resultat meist ziemlich chaotisch ist, so ist das, was die einzelnen Elemente dabei machen, eben genau das: Sie verhalten sich – so oder so.

Mit herkömmlicher Kunst hat das auf den ersten Blick recht wenig zu tun. Cheng, 1984 in Los Angeles geboren, sagt dann auch, es gehe ihm darum, "keine leblosen Repräsentationen zu fabrizieren, sondern etwas, das ein Leben enthält". Für ihn sind seine Kunstwerke so etwas wie dynamische Lernumgebungen, in denen man rudimentären künstlichen Intelligenzen dabei zusehen kann, wie sie miteinander interagieren und ihr Verhalten ändern. Gerne bezeichnet er seine Arbeiten auch mal als "neuro gym", also als eine Art Gehirntraining.

In München ist auch ein Teil von Chengs bislang größtem Projekt zu sehen, der jüngst fertiggestellten "Emissary"-Trilogie, an der er seit 2015 gearbeitet hat und die im New Yorker MoMA PS1 derzeit zum ersten Mal in Gänze präsentiert wird. Die "Emissary"-Serie lässt sich wie eine Mutation der früheren Arbeiten beschreiben. "Nach einer Weile fühlte sich das Chaos der Live-Simulationen bedeutungslos an, ja sie schienen Bedeutungslosigkeit geradezu zu verkörpern", sagt Cheng. "Also habe ich sie mit ihrem Gegenteil zusammengebracht. Und für mich ist das eine Geschichte mit festgelegtem Narrativ." Beide Strukturprinzipien – die richtungslose, reaktive und im Sinne eines umfassenden Ökosystems konzipierte Live-Simulation und die deterministische, auf Abschluss ausgerichtete Geschichte – treffen nun aufeinander. Man kann wie im Labor dabei zugucken, wie sie sich gegenseitig behindern, aus der Bahn werfen und wieder aufrappeln, um neu, anders und schlauer weiterzumachen. Und in der Tat wirkt das nun unglaublich lebendig, so als stünde man einem intelligenten Wesen gegenüber, das noch dazu eine eigene Agenda hat: eine Geschichte, mit der man sich identifizieren kann. Vielleicht stimmt es ja, wie Cheng im Gespräch sagt, dass wir Menschen sehr viel weniger logisch sind, als wir immer sein möchten. Und stattdessen sehr viel narrativer, als wir denken.