In den letzten Jahren gab es immer wieder fotografische Wieder- und Neuentdeckungen, die die Fotografiegeschichte ergänzt und erweitert haben. Die frühen Farbfotografien des New Yorker Saul Leiter gehören genauso dazu wie der nur durch Zufall gerettete Nachlass des Kindermädchens Vivian Maier. Doch während Leiter seine späte Anerkennung wenigstens noch selbst erleben durfte, blieb der verarmten Maier der Erfolg nicht mehr vergönnt – sie starb 2009 und somit nur Monate bevor John Maloof, der kurz zuvor ihren Nachlass aufgekauft hatte, ihre Fotos bei Flickr hochlud und fragte, ob "das Zeug etwas wert" sei. Der Rest ist - im wahrsten Sinne - Fotografie-Geschichte.
Ganz so schillernd ist die Wiederentdeckung des deutschen Fotografen Horst H. Baumann mit Sicherheit nicht. Aber glücklicherweise auch nicht ganz so tragisch, wenngleich er seine gerade in Köln zu sehende Retrospektive ebenfalls nicht mehr miterleben kann – Baumann starb 2019 im Alter von 84 Jahren in Düsseldorf. Allerdings stellt sich auch die Frage, wie wichtig ihm die Ausstellung überhaupt gewesen wäre, denn obwohl er in den 1950er- und 1960er-Jahren eine außergewöhnliche Karriere als angewandter Fotograf hinlegte, mehrere Preise gewann und für zahlreiche Zeitschriften, darunter die bis heute einflussreiche "Twen", arbeitete, wandte er sich Ende der 60er dem Design und der Lichtkunst zu. Und auch das durchaus erfolgreich: 1977 war er auf der Documenta 6 mit der weltweit ersten permanenten Laser-Lichtskulptur im öffentlichen Raum, dem "Laserscape Kassel", vertreten.
Für sein Vermächtnis als Fotograf war dieser Schritt hingegen eher destruktiv. Hans-Michael Koetzle listet im Katalog zur von ihm kuratierten Ausstellung dann auch nahezu alle wichtigen deutschsprachigen Fotografie-Nachschlagewerke auf, die zwischen 1981 und 2011 erschienen sind – und in denen Baumann nicht erwähnt wird. Aus der neueren Fotografiegeschichte scheint Baumann "wie getilgt", stellt Koetzle ernüchternd fest.
Den Blick auf den Nachwuchs im Nachkriegsdeutschland
Zu Unrecht, wie die aktuelle Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst Köln, die zuvor im Zephyr in Mannheim zu sehen war, mehr als eindrucksvoll beweist. Gleich zu Beginn werden die Betrachter mit einer ganz entzückenden kleinen Jahrmarkt-Serie empfangen. Doch im Unterschied zu den üblichen Fotografen, die ihre Kameras entweder auf die Artisten oder auf die erwachsenen Besucher richten, blickt Baumann auf die staunenden und neugierigen Kinder am Rand der Bühnen und Karusselle. Überhaupt hat er überraschend oft den Blick auf den Nachwuchs im Nachkriegsdeutschland gerichtet, der manchmal erschreckend erwachsen und abgeklärt wirkt.
Sein weder zeitlich noch örtlich weiter bestimmtes Foto einer Kinderbande, dessen mutmaßlicher "Anführer" sein Gesicht selbstbewusst und eher provozierend statt neugierig zur Kamera dreht, hat Ikonen-Charakter. Genauso wie sein vielleicht bekanntestes Foto des Rennfahrers Jim Clark im grünen Lotus beim Großen Preis von England in Silverstone 1963. Eigentlich ist das Bild unbrauchbar, denn es ist unscharf und verwackelt, aber gerade diese Verzerrung, die durch das Ziehen der Kamera beim Fotografieren entsteht, macht die Dynamik des Augenblicks und damit die Faszination des Bildes aus.
Zudem stammt das Bild aus seiner späteren fotografischen Schaffensperiode (wenn man das bei einer Karriere, die ohnehin kaum länger als zehn Jahre dauerte, überhaupt so sagen kann), in der er in Farbe fotografierte. Baumann deshalb bereits zum Pionier der Farbfotografie zu erheben und ihn in eine Reihe mit William Eggleston und Stephen Shore zu stellen, scheint vielleicht etwas übertrieben. Bemerkenswert ist es allemal.
Klar, präzise, minimalistisch
Eine eigene fotografische Handschrift ist bei Baumann hingegen nur schwer auszumachen – zu unterschiedlich sind die Bilder und die Themen, die der Autodidakt behandelt hat. Den Einfluss der Magnum-Legende Henri Cartier-Bresson ist hingegen offensichtlich. Was ebenfalls ins Auge springt, ist sein außergewöhnliches Gespür für eine klare, oft minimalistische Gestaltung und präzise Kompositionen.
Ein vor allem in den Anfangsjahren wiederkehrendes Stilelement ist die Platzierung einer Figur oder eines Objektes zwischen zwei Senkrechten – seien es die Spitzen des Kölner Doms zwischen zwei heruntergekommenen Wohnhäusern oder ein Reiter auf seinem Pferd auf einer Deichkante zwischen zwei kahlen Bäumchen. Zum Höhepunkt bringt Baumann dieses Gestaltungselement in seinem Foto "Schwimmoper", für das er in einem Schwimmbad Menschen auf einem Sprungturm vor einer Glasfassade fotografiert hat, so dass sie zu einer spektakulären Riesen-Silhouette vor der tristen, grauen Stadtansicht Wuppertals reduziert sind.
Bei so viel Talent, so viel kreativem Output und so viel Erfolg innerhalb weniger Jahre ist es nicht nur unverständlich, sondern auch zutiefst bedauerlich, dass Baumann sich von der Fotografie gänzlich verabschiedete. Mehr noch: Er lehnte sie eigentlich ab, wie er in einem Interview in den 60er-Jahren formulierte: "I wouldn’t want (and this is a very personal opinion), after starting out as a photographer, to die as a photographer." Beinahe hätte er es geschafft.