Haute-Couture-Woche in Paris

Königin der Löwen

Bei den Haute-Couture-Schauen in Paris traf glamouröser Eskapismus auf modische Urängste. Am spektakulärsten war jedoch die Tierkopf-Kollektion des Hauses Schiaparelli, die an die Surrealismus-Liebe seiner Gründerin anknüpfte

Haute Couture, das ist Extravaganz, Opulenz, Dekadenz. Kleider, die nur Superreiche tragen werden, gefertigt in stundenlanger Handarbeit. Höchste Schneiderkunst, die maximal auf dem roten Teppich zum Einsatz kommt. Sie gilt als das Aushängeschild der großen Modehäuser, hier wird gezeigt, was eine maison kann, grenzenlos und auf gewisse Art gedankenlos. Mode wird gefeiert, politische Statements gibt es selten, die Fashion-Bubble, wie sie leibt und lebt. Zu den Frühlings-Couture-Schauen in Paris trafen in dieser Woche alteingesessene Luxushäuser auf Couture-Premieren und Leoparden auf Rotweingläser. Die Weltuntergangsuhr steht auf ganz kurz vor zwölf – aber der Eskapismus ist real. 

"Das Bild kommt direkt aus 'Der Zauberer von Oz'", hieß es auf Twitter über ein viral gegangenes Foto der Frontow der ersten Show der Woche: die des Modehauses Schiaparelli. Vor einem Jahr hatte das Label Elsa Schiaparellis, der einmal ärgsten Konkurrentin Coco Chanels, sein Haute-Couture-Comeback gefeiert. Seitdem wird den Präsentationen entgegen gefiebert.

Creative Director Daniel Roseberry versteht es, die richtige Dosis Eleganz mit einer angenehmen Prise Schock und Surrealismus zu paaren, so wie es Schiaparelli einst vorgelebt hatte. Auf dem Foto also saßen Influencerin und Unternehmerin Kylie Jenner, Marisa Berenson, Schiaparellis Enkelin, und Sängerin Doja Cat nebeneinander. Aus dem Torso von Jenners schwarzem Body-Con-Kleid wuchs ein (künstlicher, aber sehr ausgestopft aussehender) Löwenkopf hervor, der ihren gesamten Oberkörper verdeckte und der 25-Jährigen auf Twitter den Spitznamen "Aslan", angelehnt an den Narnia-Löwen, verpasste.

"Wenn Babies Spaghetti essen"

Berenson trug einen klassischen weißen Anzug, doch dann kam schon Doja Cat, die in einem Couture-Kleid, Schultertuch und kniehohen Stiefeln in Rot steckte - und dazu von Kopf bis Fuß von 30.000 Swarovski-Kristallen in der gleichen Farbe beklebt worden war. Außer ihren Augäpfeln war alles rot. "Wenn Babies Spaghetti essen", wurde ein Porträtbild der Sängerin auf Twitter betitelt.

Auf dem Laufsteg schaute ein Fake-Leopard aus dem Oberkörper des Models Slalom Harlow, Naomi Campbell trug einen Wolf an ihrem Hals, Irina Shayk den Löwen, der auch in der ersten Reihe saß. Dantes "Inferno" wurde als Inspiration der Kollektion genannt. "Die Tiere sind eine der vier wörtlichen Bezüge, die ich aus Dantes 'Inferno' entnommen habe", erklärte Roseberry. "Im ersten Zyklus von Dantes Reise wird er mit Schrecken konfrontiert. Er sieht sich einem Löwen, einem Leoparden und einer Wölfin gegenüber. Sie stehen jeweils für unterschiedliche Dinge. Aber der Löwe und die Tiere sind auch eine fotorealistische Annäherung an Surrealismus und Trompe-l’oeil, auf eine andere Art und Weise." Neben den Wildkatzen gingen die weiteren, architektonisch modellierten Entwürfe der Kollektion etwas unter, die das wahre Können des Hauses ohne viel Social-Media-Aufregung transportierten.


Bei Chanel stand der Elefant im Raum. Hier nahm sogar ein ganzer Zoo die Manege ein und machte sie zum nobelsten Spielplatz der Welt. Wie schon zu seinen letzten zwei Couture-Shows kollaborierte das französische Modehaus für das Bühnenbild mit dem Künstler Xavier Veilhan. Inspiriert waren die abstrakten, aus Holz gefertigten Tier-Riesen von animalischen Deko-Artikeln aus Madame Coco Chanels Apartment.

Als eine Art Performance wurden die trojanischen Pferde, Büffel und Rehe vor den Augen des Publikums in den Raum gezogen und mit ihnen die ersten Models, die kurz darauf aus den Tieren heraus den Laufsteg enterten. Zirkusdirektor-gleich präsentierten sie Versionen des berühmten Chanel-Kostüms mit Fliege und weißen Handschuhen, einige Köpfe schmückten schwarze Zylinder.

Corgis, Kätzchen und Hasen prangten auf Kleidungsstücken als glitzernde Stickerei. Nach kurzen, spielerischen Versionen des Tweed-Klassikers reihte sich bodenlange Couture in die Kollektion. Auf weiße, transparente Roben mit floralen Stickmustern und mädchenhafte Blumenkleider folgten wie mit Fischschuppen besetzte Pailletten-Kreationen, durchsichtige Lagenlooks und bis zum Anschlag gerüschte Röcke in Schwarz und Weiß. Den krönenden Abschluss machte ein kurzes, mit Vögeln verziertes Brautkleid, das den leichten, verspielten Zug der  Frühlings-Couture von Creative Director Virginie Viard vollendete. 


Für Sohee Parks Brand Miss Sohee war es die erste Haute Couture-Show. Die Südkoreanerin hat erst vor kurzem ihren Abschluss an der renommierten Londoner Modeschule Central Saint Martin gemacht, doch die Entwürfe der 26-Jährigen schrien von Anfang an "Couture". Ihre extravaganten, auf die beste Art und Weise kitschigen Roben präsentierte Park im Place Vendôme. Wie aus einem Zauberwald entsprungene, extrem gut gekleidete Fabelwesen schwebten die Models in ihren opulenten, mit abertausenden von glitzernden Steinen bestickten Entwürfen über den Laufsteg.

Muschelförmige Perlenelemente an den Hüften erinnerten an "Arielle in Paris", Flora und Fauna wurden in komplizierten Blumen-, Vogel- und Insekten-Stickereien aufgegriffen, die von Gemälden eines koreanischen Künstlers inspiriert sind. An die Körper geschmiegte Kleider wurden von übergroßen Mänteln, fließenden Capes und Puff-Ärmeln begleitet. Blumenkronen, bestickte Schleier und pinke, blättrige Ohrringe umspielten die Gesichter der elfenhaften Modelle. Exzentrisch gefärbter Satin – Koralle, Fuchsia, Gelbgrün, Veilchenblau – mischte sich mit matt-schwarzem Samt. Hohe Schneiderkunst at it’s best.

Ein neues Pantheon der Frauen

Diors Creative Director Maria Grazia Chiuri hingegen hat sich dem "Female Empowerment" von Beginn ihrer Zeit an bei dem französischen Luxushaus verschrieben und widmete die Haute Couture-Kollektion dieser Saison Sängerin und Tänzerin Josephine Baker, ließ sich inspirieren von deren Zeit in Paris, in den 1920er Jahren. Und auch das Bühnenbild hatte Chiuri in die Hände einer weiblichen Kreativen übergeben: Die afroamerikanische Künstlerin Mickalene Thomas gestaltete die Szenerie der Show in einem zweiten kreativen Dialog mit dem Modehaus.

13 Porträts von Women of Color, wie der Musikerin Nina Simone, den Models Donyale Luna und Naomi Sims sowie Dorothy Dandridge, der ersten afroamerikanischen Frau, die für einen Academy Award nominiert wurde, erstreckten sich über die hohen Wände des gesamten Raumes. Die Bilder waren mit Stickereien des Chanakya Ateliers und der Chanakya School of Craft, einer Gruppe von Kunsthandwerkern in Mumbai, verziert worden.

Laut Dior enthülle Thomas die tiefere Bedeutung der Kollektion folgendermaßen: "Ein neues Pantheon der Frauen". Dior sprach von einer Unterhaltung, "die sich der Bedeutung Schwarzer und mixed-raced Persönlichkeiten widmet, die durch ihre Entscheidung, anders zu denken und zu handeln, beispielhaft geworden sind". 60 Looks umfasste die Kollektion, subtil an das einstige Show-Girl Josephine Baker erinnernd und gepaart mit einem mondänen 1920er-Jahre-Vibe in Diors erfrischend simpler Eleganz. 



Viktor & Rolf hoben den von Greta Gerwigs "Barbie" ausgelösten Trend der Anzieh-Puppe auf das Level der Papier-Version. Die ersten fünf Looks ihrer Frühlings-Couture-Kollektion stolzierten wie pastellene Cupcakes über den Laufsteg, prinzessinnenhafte ausgestellte Tüllkleider in Flieder oder Zitronengelb. Das sechste Outfit jedoch hing wie verrutscht auf dem Model, als habe sich eine Papp-Lasche an der Schulter gelöst. Das geblümte Korsett und der ausladende Rock schienen wie seitlich auf den Torso aufgesteckt. Ein weiteres Modell saß in ihrem Kleid wie in einem Schwimmreifen, als sei es einmal quer durch die Robe gefädelt worden.

Eine zartorange Version des Tüll-Traums war nach oben verschoben worden, das Dekolleté des Gewands saß nun unter dem Kinn der Tragenden. Je mehr Looks, desto absurder die Anordnung des Kleides auf dem Körper: Mal berührte es nur dessen Hüfte und wurde vorneweg getragen, mal ragte der ausgestellte Saum schräg in die Luft. Die extremste Version kam mit der 180-Grade-Wende: Statt die Füße zu umspielen, umgab der Rock des babyblauen Aufzugs wie eine gigantische Halskrause den Kopf des Models, das souverän halbblind den Laufsteg überwand.  "Wir mögen die Idee, zunächst den Eindruck zu erwecken: 'Ahhhhhh, das wird alles sehr schön'. Und dann: Ups!", erklärte Rolf Snoeren.

Haute Couture und durchfeierte Nächte

"Eine synergetische, spontane Sprache findet sich zwischen dem Lexikon der Couture und der Welt der Nachtclubs", hieß es in Valentinos Show-Beschreibung. "Le Club Couture" hatte Creative Director Pierpaolo Piccioli seine Kollektion getauft, die er unter der Pont Alexandre präsentierte und in der er seine Idee des 80er-Jahre-Clubs und Valentino Garavanis Design-Codes aus demselben Jahrzehnt vereinte.

Die 89 Looks zelebrierten die Couture-Version des "Going-out-Tops": Eine pinke Riesenschleife als Rock machte den Anfang und begegnete dem Publikum später auch als Kleid-Variante, es folgten schwarze und orange Federn, pinke Schleppen, rosa Volant-Tops zu neongrüner Strumpfhose, voluminöse Ballonröcke, riesige Rüschen um den Hals und als Kleid, nackte Haut, pastellgelbe Sakkos, gepunktete Capes und überdimensionale Pailletten.

Das 58-jährige Supermodel Kristen McMenamy, in glitzerndem Säulenkleid und pinken ledernen Abendhandschuhen, stolperte erst und fiel dann in seinen Highheels hin. Schließlich lief sie ohne Schuhe weiter. Und was steht mehr für eine durchfeierte Clubnacht als ein barfüßiger Nachhauseweg? Picciolis Ziel war es nicht allein, Partystimmung zu schaffen, sondern viel mehr Haute Couture durch das Symbol des Nachtclubs zu demokratisieren:  "Couture wird zu einem Sinnbild für Einzigartigkeit, Persönlichkeit und Charakter und zu einer Beschwörung der reinsten menschlichen Freude am Anziehen und Verkleiden", hieß es in einem Statement des Hauses. Clubbing und Exklusivmode teilten schließlich Extravaganz, Performance und die Gestaltung eines Traums.


"Fear" lautete der Titel von Robert Wuns erster Haute-Couture-Kollektion, in der er sich mit seinen Ängsten auseinandersetzte. Als junger Modedesigner gehören gerade Unfälle im Atelier zu Dingen, die bedrohlich wirken, da sie die sorgfältig designten, mühsam gefertigten teuren Entwürfe in Gefahr bringen. So lief etwa ein von Kopf bis Fuß mit Rotwein beflecktes weißes Kleid mit Abendhandschuhen und elegantem Hut über den Laufsteg. In der Hand des Models das halb gefüllte Weinglas als enttarnendes Accessoire.

Ein an einen Friesennerz erinnernder Look, stilecht mit gelbem Schirm-Hut, deutete die Sorge um Regenflecken an, ebenso ein schwarzes Cape plus Schirm, die Mugler-gleich mit gläsernen, abperlenden Wassertropfen bestickt waren. Ein weiß-silbernes Outfit mit Kopfschleier war von Brandflecken gezeichnet, ein schwarzes Bustierkleid wurde mit einem aus silbernen Messern geformten Kopfteil ergänzt. Dazwischen blitzten futuristische Brillengestelle, avantgardistische Kopfbedeckungen und mehrreihige Perlenketten auf. Das vielleicht wichtigste Accessoire: Der zur Tasche umfunktionierte High-Heel mit abgebrochenem Absatz – eine größere Angst gibt es unter Mode-Fanatikerinnen wohl kaum.

Wunderbarer couturiger Spektakel-Anspruch

Den krönenden Abschluss der Haute-Couture-Woche bildete ein Comeback auf dem Laufsteg: Mugler zeigte das erste Mal seit dem Ausbruch des Corona-Virus vor drei Jahren wieder live eine Modenschau. Zwar präsentierte Creative Director Casey Cadwallader diese als Herbst-Winter-2023-Kollektion, sie bediente jedoch wunderbar den couturigen Spektakel-Anspruch.

In einer Fusion von Performance und Live-Stream inszenierte das französische Luxushaus 36 größtenteils schwarz gehaltene Looks an Supermodels wie Paloma Elsesser, Mariacarla Boscono und Irina Shayk, aber auch an Komikerin Ziwe Fumudoh und der venezolanischen Sängerin Arca. Wie in einem Werbeclip liefen die Models von einer fahrenden Videokamera begleitet oder fuhren mit ihr durch den Raum. Der aufgenommene Clip wurde direkt an der Wand hinter dem Laufsteg ausgestrahlt.

In einem dramatischen "Powerwalk" wurden so durchsichtige Bodys und spitzenbesetzte Lingerie mit gewaltigen Hosenbeinen, halben Lederhosen und asymmetrischen, bauschigen Röcken kombiniert. Außerdem trafen diese auf Lederkorsetts, Oversized-Schultern und lange Spitzenstrümpfe. Amber Valetta in einem schwarzen Cut-Out-Dress mit Schleppe und Eva Herzigová im Catsuit ergaben das Grande Finale. Cadwallader versteht es, die architektonischen und innovativen Designs des im letzten Jahr verstorbenen Thierry Mugler auf seine eigene Art und Weise ins Hier und Jetzt zurückzuholen.