Gilbert & George über Fundamentalismus

"Verbannt die Religionen!"

Im Interview spricht das Künstlerduo Gilbert & George über Luther, die Sündenböcke unserer Zeit und Kunst gegen religiösen Fundamentalismus

Gilbert & George sprechen als ein "wir". Ausnahmslos. Ein "wir" aus zwei maßgeschneiderten Tweedanzug-Körpern und einem unnachgiebigen Geist. In ihrer Bildserie "Scapegoating", die in der Berliner Matthäuskirche gezeigt wird, fragt das Künstlerduo aus London jedoch auch nach einem anderen "wir". In großformatigen mosaikartigen Pop-Collagen zeigen sie die Sündenböcke unserer Zeit: Burkafrauen, Prediger, bombenbauende Teenager. Dazwischen Gilbert & George als tanzende Skelette, zersplitterte Wachmänner und Kamikaze-Kämpfer mit Sprengstoffgürtel aus Lachgaskartuschen. Die Werkserie von 2013, die als Außenstation der Reformationsschau "Luther und die Avantgarde" erstmals in Deutschland gezeigt wird, zeichnet das Bild einer Gegenwart voller Angst, Gewalt und Vorurteilen. Mittendrin die beiden Künstler, immer mit süffisantem Lächeln, die "nur zeigen wollen, was sie sehen."

Gilbert und George, Sie haben zuerst gezögert, die Bilder in einem Gotteshaus zu zeigen. Vielleicht, weil sie hier drin wie christliche Kirchenfenster aussehen?
George: Seltsamerweise sehen sie hier drin jeden Tag christlicher aus.
Gilbert: Sie bekommen eine sakrale Aura, auch durch das Verhalten der Leute in diesem Raum. Und in gewisser Weise behandeln sie ja auch ähnliche Themen: Facetten von Christentum und Islam, wie wir sie vor unserem Haus in London sehen. Wir haben eine anglikanische Kirche am einen und eine Moschee am anderen Ende unserer Straße. Wir sind genau dazwischen. Aber die Ähnlichkeit zu Kirchenfenstern war ein Zufall. Sie sind eigentlich das Gegenteil von Kirchenfenstern. Sie sind Fenster in die Seele der Betrachter.
George: Wir sehen uns alle selbst in den Bildern. Als Abgleich mit dem, was auf ihnen zu sehen ist. Man ist damit einverstanden oder nicht oder etwas dazwischen, aber man verhält sich dazu. Es sind keine Fenster nach außen, sondern nach innen. Wie wenn man ein Buch gelesen hat. Man hat sich dabei verändert.

Die Ausstellung heißt "Luther und die Avantgarde". Mit welchem Begriff können Sie mehr anfangen?
George: Wir haben nie den Begriff Avantgarde benutzt. Das ist irgendwie zu französisch.
Gilbert: Unser Konzept war immer die "living sculpture". Wir haben uns 1969 selbst zum Zentrum unserer Kunst gemacht und das war's.
George: Aber wir sind sehr für Reformation. Sich Raum zu verschaffen ist sehr wichtig. Jeder ,der dabei geholfen hat wie Luther, ist erstmal eine Inspiration.
Gilbert: Aber wir ziehen die englische Variante vor. Heinrich VIII. wollte mit der Reformation die Scheidung von seiner Frau erreichen. Praktische Gründe, nicht so sehr religiöse.

Luther soll einen sehr derben Humor gehabt haben. Das verbindet Sie vielleicht.
Gilbert: Ich glaube, er hat viel gefurzt.
George: Und er hat den Antisemitismus erfunden.

Womit wir bei den Sündenböcken wären.
George: Absolut.
Gilbert: Der Begriff ist sehr interessant, wir haben den Titel von einem Flugblatt übernommen, den wir in unserer Straße gefunden haben. Darauf beschuldigt ein muslimischer Autor den Westen, die Muslime zu Sündenböcken zu machen.
George: Dieser Mechanismus ist ein sehr kraftvoller und ein sehr brutaler. Man kann sich jeglicher Verantwortung entziehen, indem man sich selbst als Sündenbock stilisiert oder andere zu welchen macht. Diesen Mechanismus kann man heute überall und in jede Richtung beobachten.

Sie zeigen auf ihren Bildern verschiedene zeitgenössische Erscheinungen des Sündenbocks: verschleierte Frauen, junge vermummte Männer. Haben Sie sich gefragt, ob Sie durch die Wiederholung der Stereotype solche Feindbilder noch verfestigen?
Gilbert: Es ist nur unsere Sicht, nur zwei Menschen, es ist nicht die Regierung, nicht die Politiker, nicht die Kirche. Wir sind nur zwei Individuen als ein Künstler, der auf der Grundlage freier Rede seine Arbeit macht.

Vielleicht unterschätzen Sie da die Wirkmacht von Bildern?
George: Die Propaganda der Religionen ist doch viel umfassender. Wenn Sie ein Restaurant aufmachen und mit dem Lautsprecher ausrufen: "Kommen Sie in unser Restaurant! Es ist wunderbar" ist das illegal. Die Gotteshäuser läuten alle fünf Stunden ihre Glocken oder rufen die Leute durch die ganze Stadt zu sich.
Gilbert: Wir haben alle zwei oder drei Jahre eine Ausstellung, die Kirche hat jeden Sonntag eine Ausstellung.

Hat die Kirche als Institution jemals eine Rolle in Ihrem Leben gespielt?
Gilbert: Nein. Nur beim Austreten mit 16. Danach gab es keinen Grund zurückzukommen.
George: Aber wir ignorieren die Kirche auch nicht. Die christliche Kirche war sehr gut bei manchen guten Anliegen und sehr schlecht bei vielen anderen. Sie hat beispielsweise die Abschaffung der Sklaverei für 30 Jahre blockiert, oder ein Gesetz gegen das Hängen.
Gilbert: Am Ende läuft alles auf den Grundsatz "Liebe deinen Nächsten" hinaus. Und dann darf man seinen Nächsten nicht heiraten. Wo ist da Freiheit?

Jetzt bittet Sie eben jene Kirche, Ihre Idee von künstlerischer Freiheit in einem protestantischen Gotteshaus auszustellen. Macht Provokation noch Spaß, wenn man eingeladen wird?
George: Es geht ja nicht unbedingt um Spaß. Es ist wichtig, sich in diesem Raum für die Kunst einzusetzen. Kunst hat immer Räume für freies Denken geöffnet.
Gilbert: Wie Luther.

Die christliche Kirche ist mit ihrer Toleranz gegenüber Kritik ein relativ dankbares Ziel. Bei Ihrer Islamkritik ist das anders.
Gilbert: Anderswo könnte man uns wahrscheinlich aufhängen. Islamistische Fundamentalisten glauben, dass sie Ungläubige umbringen können. Wir sind "dirty people" für sie. Sie glauben, dass sie Recht und wir Unrecht haben, und das ist ein großes Problem.
George: Wir sagen immer: Verbannt die Religionen! Verbrennt dieses Buch! Es sind doch alles menschgemachte Götter: ägyptische Götter, griechische Götter, Hindu-Götter, Voodoo-Götter, christliche, jüdische, islamische Götter. Sie sind alle erfunden. Das zu akzeptieren, wie wir es tun, ist tolerant.

Islamistischer Terror und Islamophobie gehören beide zu den drängendsten Problemen der Gegenwart und scheinen untrennbar verbunden zu sein. Wie verhalten sich Ihre Bilder dazu?
George: Wenn die Polizei einen Teenager in seinem Schlafzimmer verhaftet, weil er eine Bombe baut, ist das nicht Anti-Islam. Die Polizei nimmt jemanden fest, weil er oder sie etwas falsch gemacht hat.
Gilbert: Die Bilder sind wie eine moderne Landschaft vor unserer Tür.
George: Die Leute können glauben, was sie wollen, an Tiere meinetwegen, dagegen haben wir überhaupt nichts.
Gilbert: Solange es kein Dogma wird, für das jemand töten würde.
George: Oder für das man andere einsperrt, die nicht derselben Meinung sind. Blasphemie ist eine fürchterliche Erfindung.

Die Bilder sind ursprünglich als Werke über und für London entstanden. Sind sie genauso für Berlin?
Gilbert: Ja, sie sind für die Welt. Man kann sie überall zeigen.
George: Vielleicht nicht in Teheran.

Sie beide erscheinen in allen Bildern, mal mehr, mal weniger vollständig. Was ist Ihre Rolle in diesen Szenen?
Gilbert: Wir sind die lebendige Skulptur, die durch die Stadt geht und alles sieht. Wir sagen "Schau hierher, schau daher", das ist alles. Es ist nur ein Blick von zwei Individuen, keine totalitäre Anweisung, wie man die Welt zu sehen hat. Wir sind nicht die katholische Kirche.
George: Wir zeigen Angst und Hoffnung und Schrecken. Wir haben in London Terror-Attacken von Katholiken und Muslimen gesehen. Wir haben die Bilder von zerfetzten Körpern gesehen. Die unterscheiden sich nicht.
Gilbert: Die christliche Kirche in England musste sich in den letzten Jahrzehnten zum Guten verändern, und daran hatten die Kunst und die Kultur einen großen Anteil. Kultur will immer Offenheit, das brauchen wir auch jetzt.
George: Kein junger Mensch geht zur Polizei oder zum Priester und fragt, was er tun soll. Sie gehen zu Pop-Konzerten oder in Museen und Galerien.

Oder ins Internet.
Gilbert: Ja. Auch das Internet ist voller verschiedener Blickwinkel auf die Welt. Wir wollen einer davon sein.

Apropos Internet: Man könnte sagen, dass Sie seit 50 Jahren Selfies machen. Hat der neue Umgang mit Bildern im Netz Ihre Arbeit verändert?
Gilbert: Stimmt, das haben wir gemacht. Und jetzt machen es alle. Aber wir haben nicht mal Handys.
George: Nur unser Assistent benutzt das Internet ab und zu und stellt Bilder auf unsere Website. Wir haben zwar Internet zu Hause, aber nicht für zeitgenössische Kunst.

Ihr Humor ist sehr Twitter-kompatibel. Es gibt mehrere Accounts in Ihrem Namen.
George: Ja, da kann man wohl nichts machen.
Gilbert: Wir haben keine Zeit für Computer. Wir sind zu beschäftigt mit unseren Bildern und wir sehen die Dinge am liebsten in der Wirklichkeit.