Dorfmusik

Eine Scheune für Schostakowitsch

Fotos: Oliver Killig
Fotos: Oliver Killig
In der Scheune: musizieren, wo sonst Stroh gelagert wird.

In der Gemeinde Gohrisch schuf der russische Komponist sein 8. Streichquartett. Heute erinnert ein Festival an den Geniestreich

Nierenförmig ist der kleine Teich, von Steinen eingefasst, eine große Buche lässt tief ihre Äste darüber hängen – ein tristes, ängstlich umrandetes Stückchen Natur vor einem deutlich renovierungsbedürftigen Gebäudekomplex im sächsischen Gohrisch. Hier soll laut Augenzeugenberichten zwischen dem 12. und dem 14. Juli 1960 der Komponist Dmitri Schostakowitsch gesessen und sein 8. Streichquartett komponiert haben, ein ziemlich verzweifeltes Stück Musik. Es ist sein heute wahrscheinlich meistgespieltes Streichquartett – und das einzige, das außerhalb der Sowjetunion entstand.

Zur Erinnerung daran finden seit 2010 in Gohrisch die Internationalen Schostakowitsch-Tage statt. Für drei Tage im Jahr beherbergt der 800-Seelen-Ort unmittelbar an der tschechischen Grenze das weltweit einzige regelmäßige Festival für den 1975 gestorbenen russischen Komponisten. Enger Kooperationspartner ist die Sächsische Staatskapelle Dresden, deren Konzertdramaturg Tobias Niederschlag die Schostakowitsch-Tage als Intendant leitet. Das Eröffnungskonzert mit der Staatskapelle findet in der Semperoper statt. Danach geht es 40 Kilometer die Elbe hinauf aufs Land, in die auf einer malerischen Anhöhe gelegene Gohrischer Konzertscheune. Über das Jahr dient das Gebäude bis heute als Scheune. Ein Foto von den ersten Schostakowitsch-Tagen vor acht Jahren zeigt Isang Enders, den damaligen Solocellisten der Staatskapelle, bei der Akustikprobe zwischen mannshohen Strohballen. Es hängt in der zentralen Bushaltestelle des Ortes, daneben hat man eine Büste Schostakowitschs aufgestellt und einen Brief aufgehängt, in dem er dem Freund Isaak Glikman die Komposition des 8. Streichquartetts meldet. "Unerhört schön" nennt Schostakowitsch die Gegend in dem Brief und fügt in dem für ihn charakteristischen ironischen, von einer tiefen Skepsis gegenüber dem Leben unterfütterten Ton hinzu: "Übrigens gehört sich das für sie auch so: Die Gegend nennt sich 'Sächsische Schweiz'."

Statt eines imposanten Konzerthauses empfängt hier eine Scheune die Besucher.

 

Unerhört schön ist das Elbtal mit seinen charakteristisch bewaldeten Tafelbergen bis heute. Die Schostakowitsch-Tage verfügen frei Haus über die Mischung, von der nicht wenige erfolgreiche sommerliche Klassikfestivals leben: Der Rückzug in die reizvolle Natur ermöglicht eine Konzentration auf die Musik, wie sie im hektischen Großstadtbetrieb kaum möglich ist. Hinzu kommt dann oft der Charme des Improvisierten, sogar in Bayreuth wird das Festspielhaus, das Richard Wagner als Provisorium in die Provinz stellte, bis heute gern liebevoll die "Scheune" genannt.

Bereits im 19. Jahrhundert hatte ein Musiker der Sächsischen Staatskapelle Gohrisch als, wie man damals sagte, Sommerfrische für sich und seine Familie entdeckt, andere Künstler folgten. Die junge DDR schätzte den Charme der ländlichen Idylle ebenfalls und erbaute dort ein sogenanntes Intelligenzheim für ihre politisch konformen Intellektuellen. Weil die Parteioberen bald neidisch wurden, kaperte der Ministerrat der DDR den Gebäudekomplex als Gästehaus für sich und seine Staatsgäste. Nach der Wende wurde das Ensemble von der Treuhand verkauft, im besterhaltenen Teil versucht derzeit eine Berliner Hotelkette ihr Glück. Vor der Wende hatte das Gästehaus vielen Gohrischern ihr Auskommen gesichert, die Führungen für die Konzertbesucher der Schostakowitsch-Tage übernimmt bis heute ein ehemals für die DDR-Gästehäuser zuständiger Regierungsmitarbeiter. Er zeigt auch den damals sicher sehr modischen Tanzpavillon mit ein-gebauter Fußbodenbeleuchtung, auf dessen Empore Schostakowitsch jeden Morgen den Konzertflügel traktiert haben soll.

Die Konzertbesucher kommen zum Teil aus der ganzen Welt nach Gohrisch.

 

Der Komponist wohnte hier im Jahr 1960, als er die Musik für den Film "Fünf Tage – fünf Nächte" schrieb. Die erste filmische Koproduktion zwischen der DDR und der Sowjetunion erzählt in idealisierender Verklärung, wie die Rote Armee nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die ausgelagerten Kunstschätze der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister aufspürt. Zur Inspiration für seine Filmmusik wollte sich Schostakowitsch vor Ort ein Bild von dem noch immer völlig zerstörten Dresden machen und wurde dafür von der DDR im Gohrischer Gästehaus beherbergt.

Doch auch in der unerhört schönen Gegend vergaß Schostakowitsch die Zerstörungen nicht, die der real existierende Kommunismus in seiner Seele hinterlassen hatte. In seinem 8. Streichquartett zitiert er all die Werke, die unter Stalin verboten worden waren und ihn an den Rand des Arbeitslagers oder der heimlichen Exekution gebracht hatten. Die panische Nervosität und die bodenlose Trauer der Musik geben einen erschütternden Eindruck davon, wie es in einem aussieht, der einen ständigen Spagat hinlegte zwischen dem eigenen Gewissen und seiner offiziellen Stellung als führender Komponist der Sowjetunion.

Mitten in Natur und ländlicher Stille kann man avantgardistische Klänge hören.

 

In seinem Roman "Der Lärm der Zeit" hat der britische Schriftsteller Julian Barnes jüngst noch einmal beeindruckend das Porträt eines Komponisten gezeichnet, der sich auch unter der milderen Repression von Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow nie sicher fühlen konnte. Von Haus aus ein eher ängstlicher Charakter, verflucht sich Schostakowitsch darin für die vollzogenen Anpassungen an das System, handelt aber im Einzelfall immer wieder mutig und unterläuft in seiner Musik häufig die verordnete Ästhetik des Sozialistischen Realismus. Auch sein 8. Streichquartett widmete er offiziell mit staatstragender Systemkonformität "den Opfern von Krieg und Faschismus". Im Brief an Glikman aus Gohrisch nennt er es dagegen sarkastisch ein "niemandem nützendes und ideologisch verwerfliches Quartett". Er habe es zum Gedenken an sich selbst komponiert, während er beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe "wie Urin nach einem halb Dutzend Biere", da nach seinem Tod seiner ja doch niemand gedenken werde.

Damit hat er nicht recht behalten, wie gerade die letzten Jahre gezeigt haben. Die Kompositionen Schostakowitschs erfreuen sich inzwischen auch in westlichen Konzertsälen einer Beliebtheit, die nicht vielen Komponisten des 20. Jahrhunderts zuteil geworden ist. Doch in Gohrisch ist man näher dran an den politischen Hintergründen ihrer Entstehung, weshalb Intendant Tobias Niederschlag in einem Festival an diesem Ort auch "eine Relevanz in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte der letzten 50 Jahre" sieht. In den Programmen kombiniert er das Werk Schostakowitschs häufig mit dem von Zeitgenossen, "die auch ähnliche Schicksale haben" und bei denen die "Entwicklungslinien aus dem Kalten Krieg noch spürbar sind", wie er im Gespräch sagt.

 

Es sind Komponisten wie Sofia Gubaidulina oder Mieczysław Weinberg, deren Kompositionen beim Festival im vergangenen Juni neben denen Schostakowitschs zu hören waren. Der 1996 verstorbene Weinberg war ein enger Freund Schostakowitschs, den dieser noch unter Stalin einmal mit einem ziemlich mutigen Brief aus dem Gefängnis zu holen versuchte. Von den ständigen Repressionen eingeschränkt, komponierte Weinberg vieles für die Schublade, was erst in den vergangenen Jahren im Rahmen einer regelrechten Weinberg-Renaissance auf westlichen Spielplänen aufgetaucht ist. Die Komponistin Sofia Gubaidulina hatte Schostakowitsch dagegen noch als junge Studentin ermutigt, "ganz sie selbst zu sein", wie die heute 85-Jährige beim Publikumsgespräch erzählte. Leicht war das auch für die gläubige Christin, die in ihren Werken bis heute häufig religiöse Sujets wählt, in der Sowjetunion nicht.

Die Mittel für die Präsentation ihrer Werke sind dabei bislang alles andere als üppig in Gohrisch. Eine Gage bekommen die Musiker nicht, größere Kammermusikwerke und kleinere Orchesterwerke sind überhaupt nur durch das Engagement der Sächsischen Staatskapelle möglich. Auch viele Gohrischer arbeiten unentgeltlich mit, servieren im Festivalzelt Würstchen und Kartoffelsalat. Bei der Agrargenossenschaft muss Tobias Niederschlag jährlich um die Scheune kämpfen, weshalb man sich auf Dauer auch einen beständigeren Ort wünschen würde. Doch die Akustik ist erstaunlich brillant, binnen Sekunden stellt sie die volle Konzentration auf die Musik her.

Wenn das Orchester schweigt, kann man sich der Sommerfrische hingeben.

 

In der intimen Atmosphäre mit ihrem engen Beieinander von Publikum und Künstlern trifft man bis heute auf Weggefährten Schostakowitschs wie den russischen Dirigenten Gennadi Roschdestwenski, den polnischen Komponisten Krzysztof Meyer, der eine überaus lesenswerte Biografie über Schostakowitsch geschrieben hat, oder den Dirigenten Thomas Sanderling. Sein Vater Kurt Sanderling, ebenfalls ein bekannter Dirigent, hatte Schostakowitsch bei seinem zweiten Aufenthalt in Gohrisch besucht, als der 1972 noch einmal für einen Urlaub in die "unerhört schöne" Gegend zurückkehrte. Seinem Sohn Thomas hatte Schostakowitsch noch als sehr jungem Dirigenten die deutsche Erstaufführung seiner 13. und 14. Symphonie anvertraut. Bei den Schostakowitsch-Tagen in diesem Jahr fiel ihm die Ehre zu, eine veritable Uraufführung aus dem eigentlich gut aufgearbeiteten Werkbestand Schostakowitschs zu präsentieren. Die drei Stücke aus der Oper "Die Nase" sind erst vor Kurzem im Nachlass des Komponisten entdeckt worden. Für die Schostakowitsch-Tage bedeutete ihre Uraufführung einen Durchbruch auch in der überregionalen Aufmerksamkeit.

Bei allem Gedenken an den Namensgeber ist das Festival denn auch nicht nur auf Rückschau ausgelegt. "An dem Ort, wo etwas Neues entstanden ist, muss auch Neues präsentiert werden", lautet die Überzeugung des Intendanten Tobias Niederschlag. Auf dem Programm steht hier fast ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Andere Festivals mit diesem klaren Schwerpunkt werden oft nur von einem Spezialpublikum besucht, in Gohrisch sieht das anders aus. Die Auslastung liegt bei 90 Prozent, aus dem nahen Dresden kommen viele Konzertbesucher für das verlängerte Wochenende nach Gohrisch.

Tobias Niederschlag, Intendant des Festivals, Dirigent und Schostakowitsch-Weggefährte Gennadi Roschdestwenski und die Pianistin Viktoria Postnikova.

 

Funktionieren dürfte das auch deshalb, weil die in Gohrisch stark vertretenen Komponisten aus dem ehemaligen Ostblock nie einem derart hermetischen Avantgardebegriff gefolgt sind wie manche ihrer Kollegen im Westen. Ihre Kompositionen streben bei aller künstlerischen Eigenständigkeit häufig nach unmittelbarer Verständlichkeit, auch nach einem intensiven Ausdruck von Emotionen. Nicht nur Schostakowitschs Musik ist deshalb im Westen mittlerweile Teil des Kanons geworden, auch andere Komponisten aus der ehemaligen Sowjetunion werden seit dem Fall des Eisernen Vorhangs mit wachsender Aufmerksamkeit rezipiert. Nicht zufällig wohl ist das Interesse an ihrer Musik in dem Maß gestiegen, in dem man im Westen der eigenen, einst ziemlich strengen Avantgarde etwas müde geworden ist. Gohrisch kann sich so nicht nur als Reflex der sozialistischen Vergangenheit begreifen, sondern auch als Schnittstelle zwischen West und Ost in der Gegenwart. Groß reden muss man über die darin liegenden politischen und ästhetischen Implikationen nicht. Man lässt die Musik für sich sprechen, die schließlich nicht nur bei einem Komponisten wie Schostakowitsch oft mehr und Komplexeres ausspricht, als Worte erklären könnten. Der kleine Teich, an dem einst ein ziemlich verzweifeltes Streichquartett entstand, schlägt seine Wellen.