Ein ungedeckter Scheck

 

Mitte der 80er-Jahre, als ich noch ein zorniger junger Mann mit Elektrogitarre war und in meiner Freizeit in den Fächern Größenwahn und Weltschmerz brillierte, zerfiel die Einwohnerschaft des Planeten Pop, den ich damals für den Angelpunkt des Universums hielt, beneidenswert übersichtlich in zwei ungleiche Gruppen: die Gebenedeiten und die Fans. Die Fans, das waren all die bedauernswerten Gestalten, die sich für Musik begeisterten, dabei aber klaglos akzeptierten, dass andere Menschen sich für andere Dinge oder auch nur für andere Musik begeisterten. Die Gebenedeiten dagegen lasen Spex. Spex-Leser waren keine simplen Fans. Sie waren Wissende. Sie hörten nicht einfach die Musik, die ihnen gefiel. Spex-Leser hörten die richtige Musik. Und dazu lasen sie die richtigen Bücher, trugen die richtige Brillen und sahen die richtigen Filme. Was genau die richtige Musik und mit welchen Büchern, Brillen und Filmen sie jeweils kompatibel war, erfuhr man in Spex. Das Richtige erschien dort in einer Gloriole aus bedingungslosem Dogmatismus und ebenso bedingungsloser Herablassung.

 

Der Distinktionsgewinn, der demjenigen zuteil wurde, der als Erster das jeweils neueste Heft in den Bandübungsraum mitbrachte, war gewaltig. Doch nach ein, zwei Jahrgängen musste ich bemerken, dass der Zauber rück­standslos verflogen war. Die plötzliche Ernüchterung hatte wohl vor allem damit zu tun, dass ich   angefangen hatte, mit meinem bis dahin eher halbherzig betriebenen Philosophiestudium ernst zu machen.

 

Unter dem Eindruck der Konsequenz, mit der in diesem Fach der rhetorische Oberflächenschmelz auch des strahlendsten Theoriegebäudes ignoriert und stattdessen die Argumentation mit bohrender Hartnäckigkeit auf ihre Folgerichtigkeit hin untersucht wurde, verdichtete sich bei mir schon recht bald der Verdacht, dass die Mehrzahl der Theorieschecks, die die Spex-Autoren in jeder Ausgabe freigiebig ausstellten, zwar schwindelerregende Gewinne verhießen, dabei aber weitgehend ungedeckt waren.

 

1990 erschien dann die erste Ausgabe der Zeitschrift Texte zur Kunst, und obwohl sie andere Themen behandelte, mehr weibliche Autoren einsetzte und sich auch an ein gänzlich anderes Publikum richtete, fühlte ich mich augenblicklich wieder zurück in die humorfreie Zone meines alten Übungsraums versetzt. Wohlvertraut war nicht nur, dass ich mich zunächst mit brennendem Interesse auf die höchst ambitioniert konzipierten und in jeder Hinsicht weit ausgreifenden Artikel stürzte, aber in der Regel schon nach wenigen Minuten ermüdet weiterblätterte. In Texte zur Kunst begegnete ich auch der altbekannten besserwisserischen Rhetorik aus aufgeregt verwirbeltem Diskursschnee wieder, derselben scharfrichterlichen Strenge, demselben prätentiösen Ges­tus wie seinerzeit in Spex. Selbst das Grundaxiom, mit dem die Autoren arbeiteten, war dasselbe – auch hier lebte das pädagogische Pathos der Texte von der Unterstellung, die Mehrheit der Leser sei in undurchschauten Verblendungszusammenhängen befangen, die es nun endlich schonungslos aufzudecken gelte.

 

Natürlich war das Heft nicht ausschließlich eine Leistungsschau der Überheblichkeit. Die furiosen Auftritte eines Stefan Germer  verbanden den kritischen Anspruch auch mit großer Sachkenntnis. Und dank mancher Gastautoren schwebte mitunter sogar ein ein zarter Hauch Ironie durch das Heft. Doch insgesamt war das Leseerlebnis derart bodenlos ununterhaltsam, dass ich auch in diesem Fall schon nach wenigen Ausgaben abwinkte. 

 

Als Mitherausgeberin der ersten Stunde hat Isabelle Graw den angestrengt ambitionierten Auftritt der Zeitschrift maßgeblich mitgeprägt. Nimmt man zur Kontrollpeilung Heft eins aus dem Jahr 1990 zur Hand, so findet man dort ein Interview, das sie mit dem französischen Multitheoretiker Cornelius Castoriadis führte. Die Lis­te der Leitbegriffe, mit denen Graw ihrem Gesprächspartner seinerzeit auf den Zahn fühlte, wirkt aus heutiger Sicht wie ein privilegierter Blick auf die sedimentüberzogenen Tiefenschichten längst ausgetrockneter Diskursozeane: Psychoanalyse, Postmoderne, andere Lektüre, kompensatorische Funktionen des Begehrens, Gegen-den-Strich-Lesen, Befreiungs­poten­zial, Ausgrenzung, Totalitarismus, Negation der Negation, identitätskonstituierender Faktor, imaginäres Symbol... Schon die schiere Aneinanderreihung all dieser geistigen Bluechips könnte einen ins Schwitzen bringen, wüsste man nicht, dass sich keine der Hoffnungen, die man seinerzeit an solche Großtermini knüpfte, je auch nur annähernd erfüllt hat.

 

Wenn Isabelle Graw jetzt ein Buch mit dem vergleichsweise entspannt-süffigen Titel „Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Culture“ vorlegt, so heißt das nicht, dass sich die große Ambition von gestern mittlerweile in überlegene Gelassenheit aufgelöst hätte. Der Ton, mit dem sie ihre Leser im Vorwort auf die geistigen Wunderdinge einstimmt, die sie erwarten dürfen, zeigt anschaulich, dass Bescheidenheit und Selbstdistanz noch immer nicht ihre Sache sind: „Der Einsatz dieses Buches“, so schreibt sie wohlgemut, „ist ein doppelter, da es Theoriebildung mit Gegenwarts­diagnostik verschränkt. Es stellt gesellschaftstheo­retische Überlegungen zur Verfasstheit von Kunstwelt und Kunstmarkt dar, die von empirischen Daten unterfüttert werden.“ Mit diesem Vorhaben, so gibt Graw freimütig zu, habe sie sich sicher zu viel zugemutet: „Das Prinzip ‚Überforderung‘ kann aber auch zu produktiven Einsichten und originellen Thesen führen, wie dieses Buch demonstrieren wird.“

 

Nun verfolgt Isabelle Graw in ihrem Buch in der Tat eine Handvoll Thesen, als da wären: Erstens, der Marktwert eines Kunstwerks und seine künstlerische Relevanz sind zwei unterschiedliche Größen. Zweitens: Man kann weder als Künstler noch als Kritiker aus dem Markt aussteigen, denn, drittens: Der Kunstmarkt ist komplexer als angenommen, weshalb es, viertens, ebenso wenig bringt, ihn anzubeten wie ihn zu verteufeln.

 

All das kann man zweifellos mit guten Gründen vertreten. Doch wie es in diesem Fall auf der quälenden Langstrecke von 160 Seiten vorgeführt wird, ist leider weder produktiv noch originell. Zwar breitet Graw eine Fülle von Beispielen für die weitgehend undurchsichtigen (aufmerksamkeits-)ökonomischen Mechanismen des Kunstbetriebs aus. Doch statt überzeugende Erklärungen dafür anzubieten, bleibt sie in den meisten Fällen bei der bloßen Beschreibung stehen. Was das verwickelte und aporetische Verhältnis von Kunst und Markt angeht, darüber erfährt man in diesem so redseligen Traktat also nichts, aber auch gar nichts, was Walter Grasskamp nicht schon vor zehn Jahren in dem schönen Bändchen „Kunst und Geld“ kürzer, prägnanter und ungleich eleganter formuliert hätte. Während man damals mit der kritischen Überprüfung des künstlerischen Autonomiepos­tulats aber noch auf Widerstand stieß, ist diese Diskussion mittlerweile längst gelaufen. Man müsste schon auf einen ziemlichen Esel treffen, wollte man darüber noch ernsthaft streiten.

 

„Der große Preis“ bietet somit nicht etwa bemerkenswerte Einsichten als vielmehr das denkwürdige Schauspiel, wie jemand durch sperrangelweit offene Türen tritt, dabei aber Lärm macht, als führte der Weg direkt durch die Wand. Ein großer Teil dieses Lärms entsteht in der durchsichtigen Absicht der Autorin, ihrem Unternehmen die Anmutung konziser Wissenschaft zu geben. Das Arsenal der Kunstgriffe in dieser auch im akademischen Milieu äußerst populären Disziplin ist bekanntlich umfangreich. Isabelle Graw setzt, neben Namedropping, vor allem darauf, jeden nächsten kleinen Argumentationsschritt mit größtem zeremoniellem Pomp anzukündigen.

 

Ihr wichtigster Kniff aber besteht darin, schlichte Gedanken, oder gegebenenfalls auch bloße Denkversuche, sprachlich so kompliziert wie möglich klingen zu lassen. „Analog zu anderen Waren“, heißt es da beispielsweise, „wird die Ware Kunst von mir als sich in einen Symbol- und einen Marktwert aufspaltend konzipiert.“ Nicht minder hölzern, aber noch erratischer: „Mit dem geringen Marktwert des ‚Künstler-Künstlers‘ hängt es meiner Meinung nach … zusammen, dass seine Position im Sinne eines tatsächlich einzunehmenden gesellschaftlichen Platzes heute wenig erstrebenswert erscheint, und dies trotz seiner enormen symbolischen Aufgeladenheit.“ Sehr schön auch: „Der Künstler wird von mir als Celebrity avant la lettre angesehen.“ Und geradezu unsterblich: „Das Symbol verweist auf eine überschüssige Bedeutung, die außerhalb von ihm liegt.“ Wo sonst, möchte man fragen.

 

„Endlich ein Buch, das dem komplexen Verhältnis zwischen ‚Kunst‘ und ‚Markt‘ auf den Grund zu gehen versucht“, preist der Verlag Graws Opus magnum an. Dagegen lässt sich wenig einwenden. Versuchen kann man es ja mal.

 

Isabelle Graw: "Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrtiy Culture".

DuMont. 160 Seiten. 19.90 Euro