Jede Pilgerstätte benötigt eine gute Geschichte, da machen Kunstbiennale oder Wallfahrtskirche keinen großen Unterschied. Diese hier geht so: 1676 hörte ein Franziskanermönch im heute nordrhein-westfälischen Dorsten beim Beten vor einem winzigen Bildnis der Jungfrau Maria eine Stimme. Ins 50 Kilometer entfernte Neviges solle er reisen, denn "da will ich verehret sein!" Ob der Gläubige die Gottesmutter ganz zufällig einen Ort zur eigenen Preisung durchgeben hörte, der sich ausgerechnet im bis heute vorwiegend evangelischen Teil der Region befindet? In jedem Fall betrieb der Franziskanerorden bald ein eigenes Kloster in Neviges, das fortan als eine Form der Gegenreformation viele Pilger in das beschauliche Städtchen bringen sollte.
Ohne den Mythos der Marienerscheinung wäre auch dieses spätere Wunder der Baukunst nicht denkbar: In der Nachkriegszeit begaben sich immer mehr Sinnsuchende auf den Weg nach Neviges, dessen Klosterkirche den Andrang bald nicht mehr schultern konnte. Ein neues Gotteshaus musste her. Ganze 8.000 Pilgerinnen und Pilger, so die Vorgabe, sollte der neue Wallfahrtsdom fassen können – und hier kommt Gottfried Böhm ins Spiel, der Architekt, der am 23. Januar dieses Jahres seinen 100. Geburtstag feiert.
Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt widmet ihm zu diesem Anlass eine kleine Werkschau, die sich ganz auf Böhms berühmtestes, aber längst nicht einziges giganto-brutalistisches Bauwerk konzentriert: die Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens, ein Betondom mit kühn gefaltetem Betondach, der sich wie ein imposanter Felsen über den beschaulichen Stadtteil Velbert-Neviges erhebt.
Erster deutscher Träger des Pritzker Prize
Vom Mythos der Marienerscheinung über die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs für den Neubau, bei dem Böhm übrigens in erster Runde rausflog, bis hin zum kompletten Entwurf und Bau des heutigen Wallfahrtsdoms einschließlich seines Interieurs lässt sich so ein einziges Bauwerk umfassend, aber fragmentarisch darstellen. Man kann auf den schwarzen Kunststoff-und-Stahl-Stühlen Platz nehmen, die Böhms Büro für den Dom entworfen hat, und nachsehen, wie das durch die Buntglasfenster einfallende Licht dem Betoninnenraum beinahe einen Art flauschigen Space Age-Moment beschert (auch die Fenster sind selbst gestaltet, "BITTE MÖGLICHST GENAU 1:1 ÜBERTRAGEN!", steht auf dem großformatigen Entwurf mit den Farbskizzen notiert). Stellenweise erscheint der knapp 1.570 Quadratmeter Grundfläche fassende Betondom von innen sogar wie ein freundlicher Dorfplatz, auf dem sich die Pilgerinnen und Pilger auf verschiedenen Ebenen um einen Mittelpunkt herum scharen.
Böhm, der vor nun 100 Jahren im benachbarten Offenbach geboren wurde, hat die Nachkriegs-BRD architektonisch mitgeprägt. Neben Rathäusern, Bibliotheken, privaten und öffentlichen Einrichtungen sind es vor allem Kirchen, die er als skulptural anmutende Gesamtwerke ins Stadtbild setzte (allein in Neviges steht mit dem Rathaus ein weiteres Gebäude aus Böhm’s Architektenbüro). 1986 erhielt er als erster deutscher Architekt den renommierten Pritzker Prize, für eine Arbeit, die laut Jury technologische Neuerungen mit einem Sinn für Vergangenes verknüpft: "In seiner eindrucksvollen Handarbeit verbindet sich vieles, was wir von unseren Vorfahren geerbt haben, mit vielem, was wir gerade erst neu erworben haben."
Künstlich geschaffene Höhlen der neueren Zeit
Gottfried Böhm entstammt einer Architektenfamilie, ist aber ebenso auch Bildhauer, was man seinen Entwürfen, den hier präsentierten Kohlezeichnungen und Modellen unschwer ansieht. Heute führen seine drei Söhne das Architekturbüro weiter. Bis heute soll der Senior manchmal vorbeischauen, um seine Einschätzung zu Entwürfen durchzugeben. Außerdem erfährt man in der Ausstellung, dass Böhm oft mit seiner Frau Elisabeth, ebenfalls eine ausgebildete Architektin, zusammenarbeitete. Ihr Anteil ist allerdings, wie so oft bei Architektinnen, Designerinnen und so fort, die auch Ehefrau waren, nicht genauer vermerkt.
Zum Ende des Rundgangs werden Kritik am Bauwerk und die aufwändigen, stilgetreuen Sanierungsarbeiten des undicht gewordenen Dachs vorgestellt. Auch heute noch erhitzt ungeschönter Beton die Gemüter, mehr noch wohl als Glas, Stahl und alle anderen Bausubstanzen jenseits des vielbesungenen "Stein auf Stein" das zusammen vermögen. Woran das liegen mag? Auch der brutalistische Wallfahrtsdom von Neviges gibt dieses Geheimnis nicht preis. Vielleicht ist es die Tollkühnheit, die diesem Material innewohnend einen solchen Bau überhaupt möglich macht und ihn so unverkennbar als Werk eines Menschen (und eben nicht einer göttlichen Entität) auszeichnet.
Vielleicht fühlt sich manch einer unbewusst an den Turmbau zu Babel erinnert, und wie der geendet ist, weiß man ja. Eine Fotografie zeigt mehrere geistliche Würdenträger, über denen sich die Betonwände bis in die bildliche Unendlichkeit nach oben recken. Auch die künstlich geschaffenen Höhlen der neueren Zeit können offenbar zum Ort der Transzendenz taugen.