Kunsthistoriker Fuhrmeister über Kunst der NS-Zeit

"Wir lügen uns permanent in die Tasche"

Foto: Ullstein/Ullstein/dpa
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Adolf Hitler (rechts) und NS-Propagandaminister Joseph Goebbels Joseph Goebbels (Mitte) besuchen 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst" im Haus der Kunst in München. Die Wanderausstellung markierte einen Wendepunkt in der NS-Kunstpolitik

NS-Propaganda vs. verfemte Künstler, schwarz vs. weiß - diese einfache Opposition hat in Deutschland lange gegolten. Der Kunsthistoriker und Autor Christian Fuhrmeister erklärt, wie sich die Wissenschaft heute um ein realistischeres Bild bemüht

Die Ideologie hinter der Nazi-Ausstellung "Entartete Kunst" in München, eröffnet vor 80 Jahren, scheint fern von heute. Wie aber halten es die Deutschen jetzt mit ihrer Kunst - Jahrzehnte, nachdem die Nazis ihre Kampagne zur Diffamierung der Moderne in Gang setzten? Dieser Frage geht der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister vom Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte schon rund 15 Jahre nach. Und es liegt, wie er im Interview der Deutschen Presse-Agentur erklärt, einiges im Argen.

Blieb aus Ihrer Sicht etwas von der NS-Propaganda hängen?
Christian Fuhrmeister: Die "entartete Kunst" wurde nach 1945 hochgradig selektiv rezipiert und dadurch zur Projektionsfläche für individuelle wie kollektive gesellschaftliche Befindlichkeiten, und dieser Prozess wird bis heute nur selten kritisch reflektiert. Der Gründungsmythos der BRD behauptet: Wir machen alles anders als die Nazis. Doch die Vorzeichen wurden einfach nur umgekehrt – und damit hat man den Nazis ihre Propaganda abgekauft.

Wirkt diese Projektion tatsächlich bis heute?
Ja, und sie funktionierte so: Die Verfemten sind die Opfer, und diese Opfer sind letztlich wir selbst. Wenn wir also deren Kunst gut finden, dann entnazifiziert uns das auch. Zugleich wurden andere Künstler als nationalsozialistisch gebrandmarkt, obwohl sie sich künstlerisch gar nicht angepasst hatten.

Hat da auch die Wissenschaft Verantwortung?
Die Kunstgeschichte hat viele Jahrzehnte lang nicht genau untersucht, was die Nazis gemacht haben – und deshalb ist die Komplexität der Kunst und der Kunstpolitik im "Dritten Reich" auch in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute nicht angekommen. Wir lügen uns also permanent in die Tasche. Die Dichotomie "entweder nationalsozialistisch oder entartet, entweder rassenideologisch oder modern und demokratisch" blieb erhalten. Dazu gehört auch der Vorwurf der "Nicht-Kunst" oder "Unkunst" an die damals von den Nazis erwünschte Kunst. Damit machen wir es uns zu einfach.

Was ist denn konkret falsch an unserem Bild von NS-Kunst?
Die Vorstellung, dass die Große Deutsche Kunstausstellung ein Porträt Hitlers und einen sterbenden SS-Soldaten zeigte und dass diese Nazi-Ästhetik dominierte, ist falsch. Solche Bilder machten nur einen Bruchteil aus. Man guckte nur auf den Stil – aber der war für die Nazis gar nicht entscheidend. Entscheidend war die Rasse. Deshalb konnten jüdische Künstlerinnen noch so realistisch malen – es hat ihnen nichts genutzt. Wie bei Lotte Laserstein.

Was wäre denn ein richtigeres Bild von der Kunst damals?
Die Nazi-Propaganda lautete auch: Wir machen jetzt alles ganz anders. Aber viele Künstler malten einfach weiter das, was sie auch vorher gemacht hatten. Die Nazis kauften das und sagten: "Das ist jetzt die wahre nationalsozialistische Kunst." Es gab aber auch Nazi-treue Künstler, die modern malten. Nur kennt man die nicht, weil die Kunstgeschichte sie ignoriert hat. Und es gibt als entartet diffamierte Künstler, die sehr gerne bei der Großen Deutschen Kunstausstellung mitgemacht hätten. Oder jene Künstler, die 1937 zugleich in der Schau "Entartete Kunst" als auch in der Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung zu sehen waren, wie etwa Rudolf Belling.

Wie wirkt sich denn das falsche Bild heute aus?
Zum Beispiel schützte die Projektion auch sehr bekannte Personen wie Lothar-Günther Buchheim und Henri Nannen. Zwei Täter, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Moderne setzten. Deshalb fragt bis heute kaum jemand, was die zwei vorher an Propagandakunst gemacht haben - der eine als Künstler, der andere als Kunstberichterstatter.