Der französische Konzeptkünstler Christian Boltanski ist tot. Er starb im Alter von 76 Jahren in Paris, wie die Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch unter Verweis auf den ehemaligen Leiter des Museums für Moderne Kunst im Pariser Centre Pompidou, Bernard Blistène, berichtete. Boltanski war auch als Bildhauer und Fotograf tätig. Er galt als Autodidakt. Anfänglich widmete er sich der Malerei, bis er Ende der 1960er-Jahre sein Gedächtniswerk schuf, das auf Emotionen basiert und zutiefst menschlich ist, abseits von großen Theorien. Seit 2008 verfolgt er das Projekt "Les archives du coeur", Herzschläge von Menschen aus aller Welt, die er aufzeichnet und archiviert. Boltanski war mit der französischen Künstlerin Annette Messager verheiratet.
Als 1944 in Paris geborener Sohn eines jüdischen Vaters hatte Boltanski sich in seinem Werken mit Erinnerungskultur beschäftigt und so unter anderem gegen Vergessen und Verdrängen des Holocaust gekämpft. Auch in Deutschland machte er sich damit früh einen Namen. Bereits Mitte der 1970er-Jahre wirkte er auf der Documenta in Kassel mit.
Boltanskis Arbeiten kreisen um die Themen Gewalt, Vergänglichkeit, Tod und Erinnerung. Er wurde vielfach ausgezeichnet und weltweit ausgestellt. Eine ständige Rauminstallation entwarf er in den 90er-Jahren für den Neubau der Berliner Akademie der Künste. Bei der Ruhrtriennale 2005 leitete er in Essen in der Kokerei der Weltkulturerbezeche Zollverein gemeinsam mit Andrea Breth und Jean Kalman das Projekt "Nächte unter Tage", das aus Kleiderballen bestand, die von Arbeitern immer wieder neu geordnet wurden. Dazu bewegten sich Mäntel an Transportbändern.
Einen dauerhaften Platz im Weltkulturerbe Völklinger Hütte bekam er mit einer Installation aus Spinden, aus denen gesprochene Erinnerungen von einstigen Arbeitern ertönen. Im Jahr 2018 entwarf Boltanski dort zudem einen festen Erinnerungsort für die Menschen, die in den zwei Weltkriegen Zwangsarbeit in der Völklinger Hütte verrichten mussten. Diese Installation zeigt einen Kleiderberg aus schwarzen Hosen und Jacken, umgeben von unzähligen Archivkästen mit Nummern.
"Mir liegt die deutsche Mentalität"
"Deutschland räumt der zeitgenössischen Kunst mehr Bedeutung ein als Frankreich", sagte Boltanski einmal in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Paris. Aber nicht nur deshalb fühlte er sich in Deutschland wohl: "Mir liegt die Mentalität. Während man in Deutschland nach einem Abendessen über Philosophie diskutiert, wechselt man in Frankreich Höflichkeiten aus und vermeidet ernste Themen."
Der Künstler wurde kurze Zeit nach der Befreiung von der Nazi-Besatzung in eine Familie geboren, die auch nach dem Krieg unter dem Trauma von Verfolgung und Denunziation litt. Alle Freunde seiner Eltern seien Überlebende des Holocaust gewesen, sagte er der französischen Wochenzeitung "L’Express". Das sei zuhause immer Gesprächsthema gewesen.
Wie er dem Blatt weiter erzählte, habe seine Mutter allen gesagt, sein Vater sei verschwunden - dabei habe der sich fast zwei Jahre unter dem Boden ihrer Wohnung versteckt. "Ich hatte eine seltsame Kindheit, sehr beschützt und voller Angst", so Boltanski. Aus dieser Erfahrung wurde sein Credo: Künstler zu sein, das heißt, seine eigenen Ängste zu verarbeiten.
In den vergangenen Jahren hat sich Boltanski auch immer mehr mit seinem eigenen Tod auseinandergesetzt. Wie in einem Werk von 2014, "Letzte Sekunde": eine riesige Digitalanzeige, die die Sekunden des Lebens zählte, und mit seinem Tod aufhören sollte.
Bis zum 30. Juli ist eine Einzelausstellung des Künstlers in der Berliner Galerie Kewenig zu sehen. Vor einigen Wochen sprach Monopol im Interview mit Christian Boltanski ein Interview über das Sterben.