Abwesenheitsnotiz: Johanna Diehl

Broken Holidays

Courtesy Johanna Diehl
Courtesy Johanna Diehl
Johanna Diehl "Magazin H.D. (Fotografien aus den Tagebüchern und dem Nachlass von H. Diehl 1918-2010), Fine Art Prints, 2018

Was machen Künstler im Sommer? In unserer Serie "Abwesenheitsnotiz" bitten wir um ein Lebenszeichen. Johanna Diehl durchstöbert Tagebücher, Notizen und Dokumente ihrer Familie

Die Mutter meines Vaters, meine Großmutter, reiste mit ihrem zweiten Mann, einem linksliberalen Journalisten, in die Welt. Nach Brasilien, Thailand, Südafrika, USA, Russland, meist mit der Fluggesellschaft Pan Am, für die ihr Mann ein lebenslanges Flugticket besaß, oder auch mit dem Schiff. Sie genoss das Fernsein, die Zerstreuung, den exotischen Luxus. Zurück in Kassel feierten sie rauschende Partys, mit starken Cocktails, und mittendrin meine Eltern, seltsam fehl am Platz und einsam, jeder für sich. Zwischen den klirrenden Gläsern und Stimmengewirr ein Flügel – Attribut des bürgerlichen Lebens.

Ich frage mich, ob die politischen Verfehlungen und die eigenen Verstrickungen während des Dritten Reiches, die Trauer über Verluste und Verletzungen in der eigenen Familie und die darauf folgende BRD der Wirtschaftswunderzeit nur mit Verdrängen, mit Valium, mit dem Reisen, dem Fliehen in ferne Länder zu ertragen war. Mein Vater schrieb seiner Mutter anklagende Briefe über die Kindheit, suchte und fand nicht, und entschied sich, mit 39 sein Leben zu beenden.

Diesen Sommer 2018 mache ich eine Reise in die Archive und die Nachlässe dieser Zeit, sichte Tagebücher, Notizen, Briefe, Dia-Magazine. Ich stoße auf Dinge, die früher Teil der Inszenierung der Cocktailpartys und privaten Empfänge waren: Streichholzschachteln, geschliffene Kristall-Gläser, Cocktail-Spieße, teure Aschenbecher. Über den heißen Dächern dieses Berliner Sommers legen der Pianist Marc Schmolling und ich die übriggebliebenen Dinge dieses Hauses in Kassel in sein Instrument. Wir präparieren das Klavier, fügen ihm Verletzungen zu und kommen uns vor wie Operateure am offenen Herzen des bürgerlichen Wohlklangs. Marc legt das feine Tafelsilber in den geöffneten Flügel, spießt das Messer durch die Saiten, entschuldigt sich bei seinem Klavier. Er improvisiert, das malträtierte Klavier ächzt und stöhnt, er summt dazu, lässt die kleinen Aschenbecher hüpfen, die Cocktailspieße tanzen, die Nadel eines kleinen Kompasses kann sich für keine Himmelsrichtung entscheiden. Die Kuchengabeln erzeugen einen scheppernden perkussiven Klang, die ganze Schwere meiner Expedition in dieses Kapitel eigener Geschichte wird von Marcs dissonanten, karnevalesken Miniaturen abgelöst.

Es entsteht ein Film und eine Performance, die Teil einer größeren Einzelausstellung im Haus am Waldsee 2019 sein wird.

Alle Bilder:

Johanna Diehl "Broken Repertoire", 8 Etüden für präpariertes Klavier (Arbeitstitel), Performance und Videoinstallation mit Marc Schmolling 2018/2019

Johanna Diehl "Magazin H.D.", (Fotografien aus den Tagebüchern und dem Nachlass von H. Diehl 1916-2010), Fine Art Prints, 2018