Malerin Bridget Riley wird 90

Bilder, die das Auge attackieren

Die britische Künstlerin Bridget Riley ist eine der Großen der Konkreten Kunst. Sie blieb nie bei erprobten Bildkonzepten stehen und schuf sich immer wieder neue "Probleme". Nun wird sie 90 Jahre alt

Der Betrachter mit Hut lacht sich kaputt. "What does this represent?", grinst der Mann auf Ad Reinhardts berühmtem Cartoon von 1947. Die Witzfigur mokiert sich über ein abstraktes Gemälde, das sich im zweiten Schritt selbst als Wesen mit Armen, Beinen und schlagfertigem Mundwerk entpuppt. "What do you represent?", blökt das Bild, der Hut fliegt hoch, der Herr fällt um.

Auf die Interaktion mit dem Bild kommt es an, der Bildinhalt ist zweitrangig. Da wären wir bei Bridget Riley, einer ganz Großen der Konkreten Kunst. Seit sechs Jahrzehnten schafft die britische Malerin Bildstrukturen, die den Blick anziehen, springen oder kreisen lassen. Vor einem Riley-Bild steht die Wahrnehmung nie still, ihre abstrakten Formationen sind derart mit Dynamik aufgeladen, dass die Bilder selbst in Bewegung scheinen.

"Bilder, die das Auge attackieren", nannte ein Kunstjournalist des "Time"-Magazins Werke der Op Art – zu der Rileys Schaffen gezählt wird – im Jahr 1964. Ein Jahr später wurde die Künstlerin dank der MoMA-Gruppenschau "The Responsive Eye" berühmt, die von New York aus durch mehrere US-Städte tourte. 

"Manierismus der konkreten Kunst"

Riley war zwei Mal Documenta-Teilnehmerin, 1968 und 1977. Sie hat 2003 den japanischen Praemium Imperiale bekommen, 2009 den Goslarer Kaiserring, 2012 den Rubenspreis der Stadt Siegen. Zu ihren wichtigsten Ausstellungen zählt eine Retrospektive 2003 in der Tate Britain in London, die in verschlankter Versionen bis 2005 auch in Australien, Neuseeland und der Schweiz zu sehen war.

2019 erklärten die Kuratorinnen der Ausstellung "Vertigo. Op Art und die Geschichte des Schwindels" im Wiener Mumok (und bald darauf im Kunstmuseum Stuttgart) die Wahrnehmungskinetik von Victor Vasarely oder Bridget Riley zum "Manierismus der Konkreten Kunst". Die These, dass das eher ruhige Gefüge eines Piet Mondrian, Max Bill oder einer Agnes Martin in der Op Art gewissermaßen aus den Fugen gerät, lässt sich anhand von Rileys Bildern durchaus nachvollziehen.

Bridget Riley wurde am 24. April 1931 in London geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie kriegsbedingt in Cornwall. Als 18-Jährige wurde sie zum Kunststudium am Londoner Goldsmiths College zugelassen. Dort widmete sie sich fast ausschließlich dem Aktzeichnen. Dadurch habe sie gelernt, "das zu analysieren, was ich sah, und aus dem Gesehenen heraus eine Struktur zu abstrahieren, die sich zu Papier bringen und weiter entwickeln ließ", wie sie der Zeitschrift "Kunstforum" erzählte. "Und ich lernte, diese Analyse mit Linien durchzuführen, mit Volumen, mit Hell- und Dunkelschattierungen und dann, nach einiger Zeit, mit Farbe. Diese Auseinandersetzungen gaben mir das Gefühl mit grundsätzlichen Entscheidungen zu tun zu haben, auf die ich aufbauen konnte."

Ein quasi-musikalischer Resonanzraum

Zur Zeit der aufsehenerregenden "Responsive Eye"-Ausstellung arbeitete die Künstlerin mit farbigen Grauabstufungen, nach 1967 traute sie sich an reine Farbwerte heran. Riley blieb nie bei erprobten Bildkonzepten stehen. Immer wieder schuf sie sich selbst "Probleme", deren Überwindung dann zu neuartigen Lösungen führten. So adaptierte sie nach einer Reise in Nordafrika 1979/80 die auf ein halbes Dutzend Farbtöne reduzierte Palette der alten Ägypter.

Eine Zeitlang schuf Riley vertikal ausgerichtete, rhythmische Streifenbilder, bei denen es Farbakkord-Gruppen, vor- und zurückspringende "Noten" gab: Ein quasi-musikalischer Resonanzraum. Riley sprach selbst sehr einleuchtend von ihrer Suche nach einer "visuellen Frequenz", einer von ihr gesuchten "schwer fassbaren allgemeinen Ebene (…), die sich aus bestimmten Farbebenen zusammensetzt und sich durch deren leichte Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen bildet".

1986 brach sie das Bildgefüge der farbigen Bänder risikofreudig auf, indem sie parallele Diagonalen in die Vertikalstruktur einbrachte; in der zweiten Hälfte der 1990er wirbelte sie die vorherige Ordnung mit kreisförmigen und geschwungenen Elementen wieder auf. Im Herbst 2007 waren in einer Soloschau in der Berliner Galerie Max Hetzler Gemälde im Breitformat zu sehen, deren komplexe Struktur aus Schwüngen, Diagonalen und Vertikalen, aus Positiv- und Negativformen an arabische Kalligrafien erinnerte, zumal Riley in der Zimmerstraße auch ein Wandbild schuf, bei dem Wandweiß in das Gefüge eindrang und die Formen teils schriftartig aus einem durch blau-grüne Blöcke definierten Grundrechteck heraus tanzten.

Die natürliche Beweglichkeit der Wahrnehmung

Schrift ist ein gutes Stichwort, denn Bridget Rileys Gesamtwerk lässt sich als Kontinuum begreifen, das über selbstgebaute Hürden hinweg ein konstantes Ziel fortschreibt: Ihre Bilder spielen mit der natürlichen Beweglichkeit der Wahrnehmung. Ihr Gegenstand ist – philosphisch formuliert – der Blick an sich.

Wer die Sogkraft ihrer abstrakten Kraftfelder nicht spürt, dem ist wahrscheinlich der Hut über die Augen gerutscht. Am 24. April wird die Künstlerin, die hoffentlich gerade in einem ihrer drei Ateliers in Cornwall, London oder Südfrankreich an neuen Bildern arbeitet, 90 Jahre alt. Happy Birthday, Bridget Riley!