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11 Kunst-Filme, die sich jetzt lohnen

Siegfried und Roy mit weißem Löwen 
Foto: Getty Images / Courtesy Arte

Siegfried und Roy mit weißem Löwen in Las Vegas, zu sehen im Dokumentarfilm "Ein Leben für die Illusion"

Unsere Filme der Woche tanzen mit dem Künstler Anish Kapoor, begleiten eine "Systemsprengerin" und erinnern an das berühmteste Magierduo der Welt 


Die bodenlose Wut eines Mädchens

Der deutsche Film im Ausland ist oft von schwülstigen historischen Stoffen geprägt. Mit einem Mädchen namens Benni wurde 2019 ein anderer Weg eingeschlagen. Mit ihrem Film "Systemsprenger" ging Regisseurin Nora Fingscheidt für Deutschland ins Oscar-Rennen. Auch wenn es dort nicht für eine Nominierung reichte, gewann das Drama um ein wütendes Mädchen, das ihren Platz sucht, mehrere internationale Preise. Untypisch an diesem deutschen Kritikliebling ist die Jetztzeit der Handlung, noch untypischer die kindliche Heldin. Benni heißt eigentlich Bernadette und neigt schon im Kindesalter zu Wutausbrüchen und Aggression, sodass sie aus diversen Heimen und Wohnprojekten herausgeflogen ist. Ihre Mutter kommt mit Benni schon gar nicht mehr klar. Das Kind explodiert vor allem dann, wenn ihm jemand ins Gesicht fasst. Als Kleinkind soll ihr jemand dreckige Windeln ins Gesicht gedrückt haben. Bennis Ausraster – rosa Blitze, die Leinwand scheint in tausend Fragmente zu zersplittern – sind formal bestechende Sequenzen.

"Systemsprenger" stellt sich nicht allwissend über seine Figuren, als erstes wäre die von Helena Zagel herzzereißend verkörperte Protagonistin zu nennen, sondern zeigt ihre Not und Ratlosigkeit. Das gilt auch für die reife, besonnen auftretende Sozialarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), die immer für Benni da ist und doch an ihre Grenzen kommt.

Hoffnung keimt mit Bennis neuem Schulbegleiter Micha auf, energisch gespielt von Albrecht Schuch, der an den jungen Götz George erinnert. Gegen behördliche Bedenken setzt sich Micha mit der Idee durch, alleine mit dem Kind aufs Land zu fahren. Einige Wochen in einer abgeschiedenen Hütte zeitigen tatsächlich erstaunliche Wirkungen bei Benni. Doch ihre Umklammerungsversuche fordern nun Michas Standfestigkeit heraus: Er verliert die Distanz zu dem Kind, entwickelt Retter-Vorstellungen, die sich als schädlich erweisen könnten.

"Systemsprenger" ist ein packender, restlos unsentimentaler Film, der ohne eine Spur von TV-Seelenbalsam eine Problematik auf den Tisch knallt, ohne die wohlfeile Lösung ins Paket einzuschnüren.

"Systemsprenger", ZDF-Mediathek, bis 15. August

Filmstill aus "Systemsprenger"
Foto: Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

Helena Zengel in "Systemsprenger"


Waren die Alten Meister sexy oder sexistisch?

Let's Talk About Sex. And Art. In den zehn Folgen der Mini-Serie "Bitte nicht anfassen!" von Arte beschreibt die Komikerin Hortense Belhôte die erotischen Botschaften in Kunstwerken der klassischen europäischen (männlichen) Malerei. In jeweils rund vier Minuten entschlüsselt sie die nicht immer sehr subtilen Metaphern von unter anderem Tizian, Vermeer und Michelangelo. Mit nachgestellten Szenen, die auf das erotische Geschehen in den Gemälden anspielen, lässt sie die Stimmung in die Gegenwart fließen.

Ob auf dem Fußballfeld, im Waschsalon oder beim Spaziergang über einen Friedhof: Belhôte klärt in alltäglichen Situationen und in kürzester Zeit mit Witz über die Darstellungen von sexuellen Anspielungen bei Alten Meistern auf. Überraschend ist, dass die Künstler nicht nur Frauen erotisiert dargestellt haben. Auch Männer, Götter, Tiere und andere Wesen werden hier unterhaltsam auf ihren Sex-Appeal geprüft.

"Bitte nicht anfassen!", Arte-Mediathek, bis 2024

Miniserie "Bitte nicht anfassen!" über Kunst und Erotik auf Arte
Foto: Kazak Productions / Arte

Miniserie "Bitte nicht anfassen!" über Kunst und Erotik auf Arte


Tanzen unter Anish Kapoors schwarzem Himmel 

Im vergangenen Herbst hat der britisch-indische Künstler Anish Kapoor seine Installation "Howl" in der Rotunde der Pinakothek der Moderne in München installiert. Aufgrund des Lockdowns haben noch nicht allzuviele Menschen das geheimnisvolle schwarze Oval in echt sehen können, das alle Stockwerke des Gebäudes durchdringt. Was man damit künstlerisch so alles machen kann, zeigt jedoch die Tanzperformance "New Ocean Sea Cycle" von Choeograf Richard Siegal, die Bewegungen an Daten zum Schmelzen des Polareises knüpft.

Der Auftritt der Kompanie Ballet of Difference unter Kapoors Installation ist ab Sonntag Abend als Stream bei Arte zu sehen. "Das Ballett und das Kunstwerk brauchen sich nicht", sagt Richard Siegal im Trailer zur Performance. "Aber es scheint eine gegenseitige Anziehung zwischen den beiden zu geben." 

"New Ocean Sea Cycle: Pinakothek. 1/14 – Barents", Arte-Mediathek, ab Sonntag, 16. Mai, 20 Uhr



Die "Underground Railroad" ist doch nicht unverfilmbar 

"Als Caesar das erste Mal von einer Flucht in den Norden redete, sagte Cora nein." So lautet der erste Satz des furiosen Romans "Underground Railroad" von Colson Whitehead, 2016 erschienen. Die junge Cora verlässt dann doch mit ihrem Gefährten die grauenvolle Baumwollplantage, auf der sie als Sklavin aufwuchs. Ihre Odyssee (in den Jahren vor dem Sezessionskrieg) durch mehrere Bundesstaaten mit dem Ziel, frei zu leben, wurde jetzt von Oscar-Gewinner Barry Jenkins als Miniserie verfilmt.

Wie bei Whitehead ist die Railroad, ursprünglich ein Fluchthilfenetzwerk, eine fantastische, aber störanfällige Untergrund-Eisenbahn. Jenkins’ streckenweise freie Adaption wahrt die Seele des Originals und punktet mit einer großartigen Besetzung. Als Cora brilliert die Südafrikanerin Thuso Mbedu, in der Rolle des teuflischen Sklavenjägers Ridgeway, der Cora dicht auf den Fersen ist, überzeugt Joel Edgerton. Gute Romane sind unverfilmbar? "Underground Railroad" beweist das Gegenteil.

"The Underground Railroad", Amazon Prime

Thuso Mbedu als Cora in "The Underground Railroad"
Foto: Kyle Kaplan, Amazon Studios

Thuso Mbedu als Cora in "The Underground Railroad"


Die Hüter der Nacht

Wenn er einmal stirbt, so stellt es sich der Berliner Fotograf und Berghain-Türsteher Sven Marquardt vor, wird er in einer Art Hieronymus-Bosch-Zwischenhölle landen, verzweifelt an der Himmelspforte klopfen - und an der Tür abgewiesen werden. Während die Clubs seit über einem Jahr pandemiebedingt geschlossen sind und Türsteher eher in Supermärkten und an Museumseingängen Wache halten, taucht der Dokumentarfilm "Berlin Bouncer" von 2019 tief ins Nachtleben der dauerwachen Hauptstadt ab. Regisseur David Dietl begleitete die Szenegrößen und "Exzessbetreuer" Sven Marquardt, Frank Künster und Smiley Baldwin über mehrere Jahre und erzählt anhand ihrer persönlichen Geschichten auch vom politischen und kulturellen Wandel seit den 1990er-Jahren. 

Der Film driftet zuweilen zu sehr ins Heldenhafte (Menschen mit einem Blick als "passend" oder "nicht passend" einzuordnen kann man durchaus auch kritisch sehen). Aber im zweiten Corona-Frühjahr mit Ausgangsbeschränkungen und Zoom-Parties lösen Bilder von überfüllten Tanzflächen und der Soundtrack von Tiefschwarz und Isolation Berlin intensive Tanzsehnsucht aus. Auch die Schlangen vor der Clubtür wirken plötzlich um einiges attraktiver als die vor Penny.

"Berlin Bouncer - Die Macht der Nacht", Arte-Mediathek, bis 10. Juni  



James Baldwins Werk lebt weiter

"Ich bin weniger Schriftsteller als ein Bürger. Ich muss Zeugnis über das ablegen, was ich weiß", sagt die US-Literaturlegende James Baldwin in den ersten Minuten des Porträts "Meeting the Man: James Baldwin in Paris". Doch so hatten sich das die Filmemacher nicht vorgestellt: Als Terence Dixon und der Kameramann Jack Hazan Baldwin vor 50 Jahren in seinem Exil in Frankreich besuchten, wollten sie einen Film über Baldwins literarisches Werk drehen. Das Porträt wird jedoch persönlicher als angenommen. 

Baldwin berichtet von seiner Flucht aus Amerika, wie es ist, ganz allein zu sein und nicht mehr zu besitzen als 40 Dollar. In seinen Erzählungen wird der Autor von den Filmemachern immer wieder unterbrochen und auf unangenehme Weise in eine andere Gesprächsrichtung gelenkt. Auf intelligente Art verdreht der Schriftsteller im Laufe des Gesprächs die Blickwinkel der beiden Männer und macht ihnen so ihre eigenen Rassismen deutlich. Die Aufnahmen von 1970 sind auch für den heutigen Diskurs überaus produktiv, da Baldwin auf beeindruckende Weise vorführt, wie das Gespräch über Rassismus von vornherein von starren Standpunkten der weißen Mehrheitsgesellschaft geprägt ist. Trotzdem entsteht bei der Pariser Begegnung eine produktive Spannung.

"Meeting the Man: James Baldwin in Paris", auf Mubi

"Meeting the Man: James Baldwin in Paris", Filmstill
Foto: Courtesy Mubi

"Meeting the Man: James Baldwin in Paris", Filmstill


Alles hat seinen Preis

Warum werden manche Kunstwerke extrem teuer, und andere nicht? Die Dokumentation "The Price of Everything" von Nathaniel Kahn von 2019 erzählt die Wertschöpfungskette entlang von Künstlerstars wie Jeff Koons oder George Condo, befragt Sammler und die führenden Köpfen von Auktionshäusern.

Dabei kann es nicht gelingen, alle Faktoren einzufangen, aber ein paar aufschlussreiche Zitate. Für Amy Capellazzo von Sotheby’s ist jeder Gerhard Richter, der im Museum hängt, ein Ärgernis: "So eine sozialistische Idee!". Die Geburtsstunde des Kunstmarktes, wie wir ihn heute kennen, war die Versteigerung der Sammlung Scull 1969. Robert Rauschenberg tritt nach der ungeheuer erfolgreichen Auktion fast schon handgreiflich wütend an den Taxiunternehmer Scull heran: "Ich hab mir den Arsch abgearbeitet, und du steckst dir die Millionen ein!" Scull umarmt ihn lässig: "Hast du nachgedacht, was es mit deinen Preisen macht? Ich habe es für uns beide getan!"

"The Price of Everything", Amazon Prime

Künstlerin Njideka Akunyili Crosby in "The Price of Everything"
Weltkino Filmverleih

Künstlerin Njideka Akunyili Crosby in "The Price of Everything"


Bilder der Superlative

Die größte Freiluftgalerie der Welt befindet sich in Australien. Als das kleine Städtchen Northam an der Südwestküste des Kontinents auf die Idee kam, seine riesigen leerstehenden Weizensilos von Künstlern bemalen zu lassen, ahnten die Verantwortlichen nicht, dass sich daraus ein landesweiter Trend entwickeln würde, der durch die imposanten Bilder wieder Leben und Tourismus an fast vergessene Orte bringen würde. Die meisten der Superlativ-Kunstwerke liegen inzwischen entlang einer 200 Kilometer langen Route, dem Silo Art Trail, der nordwestlich von Melbourne verläuft.

Die Reportage "Wenn Kunst auf Silos trifft", zeigt einige spektakuläre Werke der Route und stellt deren Schöpferinnen und Schöpfer sowie die Menschen vor Ort vor. Außerdem reist das Filmteam in die 300-Seelen-Gemeinde Goroke, die sich unbedingt auch eine Kunst-Attraktion schaffen will. Der Künstler Geoffrey Carran wird mit einem ausladenden Vogelmotiv beauftragt - was ihn vor große gestalterische und technische Herausforderungen stellt.

"Wenn Kunst auf Silos trifft", Arte-Mediathek, bis 7. Juni

Silo-Kunstwerk in Brim von Guido van Helten
Foto: Courtesy Silo Art Trail

Silo-Kunstwerk in Brim von Guido van Helten


Die ganze Welt in CC

Wie empfinden Künstlerinnen und Künstler den globalen Ausnahmezustand der Pandemie? Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin hat nachgefragt, und Kulturschaffende weltweit haben in Form von Texten, Bildern, Videos und Audio-Essays geantwortet. Wiederkehrende Themen sind die gesellschaftlichen Risse und sozialen Verwerfungen, die durch Covid-19 sichtbarer geworden sind, aber auch Gegenentwürfe zur atemlosen Nachrichtenflut des vergangenen Jahres.

So hat Alice Creischer beispielsweise eine Konferenz von Krähen im leeren Berlin inszeniert, Meg Stuart zeigt die Aufnahmen einer meditativen Performance auf dem HKW-Dach, und der Autor Teju Cole will in einer schnell geschnittenen Collage aus Katastrophen- und Naturbildern Turbulenz als Diskussionsgrundlage fruchtbar machen. Psychedelisch wird es bei der finnischen Künstlerin Jenna Sutela, die obszön frisches Gemüse im Supermarkt filmt. Das Innere eines grünen Romanesco-Blumenkohls verwandelt sich daraufhin in eine trippy Choreografie aus Mikroorganismen. 

"CC World", HKW online

Meg Stuart "Intermission 2", 2020 (Filmstill)
Foto: Courtesy Meg Stuart und HKW

Meg Stuart "Intermission 2", 2020 (Filmstill)


Die Könige der Magier

"Siegfried und Roy waren Meister der Illusion. Nicht nur im Sinne des Täuschens, sondern auch im Kreieren von fantastischen Bildwelten. Ganz Las Vegas ist ein eigener Kosmos, eine Kulisse. Das Duo hat zur richtigen Zeit erkannt, dass viele Menschen ein großes Bedürfnis nach Wunschwelten als Reaktion auf unsere entzauberte Welt haben.", schrieb der Berliner Künstler und Zauberer Tobias Dostal im Frühjahr 2020 nach dem Tod der Magierlegende Roy Horn im Alter von 75 Jahren . Inzwischen ist auch dessen Partner Siegfried Fischbacher (1939-2021) gestorben. Doch ihre glamourösen Shows, die man heute durchaus als queer oder im besten Sinne camp bezeichnen kann, bleiben unvergessen.  

Der Film "Siegfried und Roy – Ein Leben für die Illusion" verfolgt die Karriere der beiden von ihren Anfängen im kriegszerstörten Deutschland bis zu dem Tag, als Roy 2003 in Las Vegas  von einem seiner Tiger schwer verletzt wurde und die Erfolgsstory ein jähes Ende fand. Ihr Einsatz von Raubkatzen und anderen Tieren in ihren Shows würde die beiden heute sicher in größere Schwierigkeiten bringen als es im vergangenen Jahrhundert der Fall war. Doch ihr unbedingter Wille zu Perfektion und Glamour hat die visuelle Kultur und unser Bild von Magiern nachhaltig geprägt. Spätestens der riesige Erfolg der Netflix-Produktion "Tiger King" hat gezeigt, dass es nach wie vor ein großes Bedürfnis nach der Zähmung  und Verglitzerung des "Wilden" gibt.

"Siegfried und Roy – Ein Leben für die Illusion", Arte-Mediathek, bis 12. Juni

Die Magier Siegfried Fischbacher (links) und Roy Horn mit Tigerbabies in Las Vegas
Foto: Getty Images / Courtesy Arte

Die Magier Siegfried Fischbacher (links) und Roy Horn mit Tigerbabys in Las Vegas


In den Straßen geboren

Sie sticht von Hauswänden ins Auge, erweckt graue Betonpfeiler zum Leben, beschert tristen Mauern unerwartete Charakterzüge und überrascht an den ungewöhnlichsten Plätzen. Street-Art hat die Kunstszene revolutioniert, zeichnet das Bildnis vieler Städte neu und ist rund um den Globus zu sehen. Einige Stadtteile in London, New York oder Paris werden sofort mit lebendiger und fantasievoller Straßenkunst assoziiert, aber auch die Lombardei ist ein bedeutender Ort der Street Art. Die italienische Dokumentation "Born in the street" widmet sich dem vielschichtigen und komplexen Phänomen und dessen Entwicklung.

Neun Persönlichkeiten aus der Szene erzählen, wie ausschlaggebend das Sprayen für die Vororte von Mailand im Hinblick auf die urbane Umgestaltung war. Mailands Graffiti-Writing-Pionier KayOne freut sich darüber, wenn sich die Mauer, die er ursprünglich bemalt hat, mit der Zeit verändert. "Die DNA der Street Art liegt in den Straßen. Wenn du solche Kunstwerke auf der Straße findest, weißt du schon, dass sie wahrscheinlich nicht für immer existieren werden. Vielleicht erhalten sie durch die Schriften anderer ein neues Leben. Das macht diese Sprache einzigartig". Die Street Art passt sich ihren Umständen immer wieder an. Neue Technologien und soziale Medien ermöglichen es, dass bemalte Wände nicht in Vergessenheit geraten. Nach Auffassung des Straßenkünstlers B0130 bleibt der Kern jedoch erhalten. "Du musst dir die Hände schmutzig machen, musst malen, den Kontrast zu anderen suchen". "Born in the street" regt dazu an, die Straßen und Künste der eigenen Stadt zu entdecken -  eine Art von Kunst-Safari, die auch in Corona-Zeiten funktioniert.

"Born in the street", Amazon Prime