Überschaubare geistige Bohrtiefe


Wie viele Kunstbildbände stehen bei Ihnen zu Hause im Regal? Wie viele davon nehmen Sie regelmäßig in die Hand? Und wie viele haben Sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr aufgeschlagen? Eben. Die vernünftigste Lösung wäre natürlich, sich künftig einfach keine mehr anzuschaffen. Unglücklicherweise aber haben manche dieser optischen Verführer einen so bestechenden Auftritt, dass alle guten Vorsätze bei der ersten Begegnung augenblicklich dahinschmelzen.
Das kann einem auch mit „Kunst & Gegenwart“ passieren. Der schwergewichtige, großformatige, opulent ausgestattete und äußerst liebevoll gestaltete Hand- und Augenschmeichler ist dem erfolgreichen englischsprachigen Programm des Phaidon Verlags entnommen. Das Buch verspricht einen umfassenden Überblick über die zeitgenössische Kunst der vergangenen drei Jahrzehnte. Dass das ein reichlich verwegener Anspruch ist, gibt die amerikanische Kunsthistorikerin und Kritikerin Eleanor Heartney, die das Mammutwerk konzipiert und geschrieben hat, freimütig zu. Allein schon quantitativ sprengt die zeitgenössische Produktion ja längst jeden Rahmen. Niemand kann die überbordende Fülle dessen, was da jahraus, jahrein an unterschiedlichsten Werken und Positionen auf den Markt und in die Ausstellungshallen drängt, noch wirklich überblicken.
 

Mit den traditionellen Ordnungsrastern der Kunstgeschichte, so Heartney, lässt sich diesem komplexen Neben-, Mit- und Ineinander deshalb nicht mehr beikommen: „Der Begriff ‚Stil‘ ist seit Jahrzehnten ein Anachronismus. Angesichts der Mobilität der Künstler und der globalen Reichweite der Kunst ist wohl auch eine geografische Gliederung keine Option. Und schließlich ist selbst das Ordnen der Kunst nach Medium, Genre oder Sujet unbefriedigend – arbeiten heutige Künstler doch mit allem und jedem, vom Kaugummi bis hin zu Pixeln, sind simultan in den verschiedens­ten Disziplinen aktiv und befassen sich mit Themen vom Klonen bis zum Shopping.“
Wie also bringt man Struktur in dieses verwirrend unüberschaubare Allerlei? Eleanor Heartneys Lösungsvorschlag ist sympathisch hemdsärmelig: Wenn man die Geschichte der Kunst nicht mehr in einem einzelnen Erzählstrang fassen kann, so ihre Kernthese, dann muss man sie eben in viele verschiedene Mikroerzählungen zerlegen. Dann kann zwar keine mehr allein Anspruch auf Vollständigkeit und Endgültigkeit erheben, dafür aber haben alle zusammen den Vorzug, dass sie ihren Gegenstand aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln ins Visier nehmen und so im bes­ten Fall ein multiperspektivisches Panorama bilden: Objektivität durch Pluralität.
 

Bei „Kunst & Gegenwart“ hat sich Eleanor Heartney für ein Ordnungsraster aus 16 Leitbegriffen wie Gesellschaft, Technik, Popkultur, Körper, Kunst, Globalisierung oder auch Identität entschieden. In jedem Kapitel werden auf etwa zehn Textseiten zeitgenössische Künstler vorgestellt, deren Werke man nach Ansicht der Autorin besser versteht, wenn man sie mit einem dieser Leitbegriffe in Beziehung setzt. Damit reduziert sich die Überfülle des Angebots auf das, was unter dem jeweiligen Aspekt von Interesse ist. Der Ordnungsgewinn, der daraus resultiert, ist allerdings relativ – auch so wird man immer noch mit gut 400 Namen konfrontiert. Da Heartney als langjährige Autorin von Art in America aber viel weiß und verständlich formuliert, ist dabei ein gut lesbarer, informativer Text herausgekommen.
Der große Aplomb, mit dem Eleanor Heartney für ihr narratives Patchwork wirbt, als müsse sie eine revolutionäre Erfindung gegen erbitterten Widerstand durchsetzen, wirkt allerdings eher albern. Für die zahllosen Kuratoren, die der Herausforderung der Kunstüberflutung durch thematisch konzentrierte Ausstellungen begegnen, aber auch für die Herausgeber von Kunstzeitschriften, die seit Jahr und Tag ohne großes Aufsehen mit Themenheften arbeiten, ist das Verfahren ein ziemlich alter Hut. Zudem sind die Kate­gorien, mit denen Eleanor Heartney arbeitet, nicht nur an sich reichlich konventionell, sie werden von ihr auch reichlich konventionell eingesetzt. Die geistige Bohrtiefe ist deshalb durchweg überschaubar – auf überraschende Einsichten wartet man vergebens. Bis auf wenige Ausnahmen trifft man in ihrem Buch auf die üblichen Verdächtigen des interna­tionalen Betriebs, also auf all die etablierten Künstler und Werke, über die ohnehin bereits in allen Magazinen ausführlich berichtet wird.
 

So wirkt „Kunst & Gegenwart“ über weite Strecken wie eine Luxussammlung einschlägiger Zeitschriftenstrecken. Wer ein Nachschlagewerk zur schnellen Orientierung oder ein Bilderbuch zum Schmökern und Stöbern sucht, ist trotzdem gut bedient – und erwirbt zugleich ein echtes Schmuckstück fürs Regal.

 

Eleanor Heartney: „Kunst & Gegenwart“.

Phaidon Verlag. 448 Seiten. 75 Euro.