John Bergers Poetologie des Zeichnens

Zwetschgen und Tyrannen

Wie könnte Baruch de Spinoza gemalt haben? Das hat sich John Berger immer gefragt. Der niederländische Philosoph des 17. Jahrhunderts soll ein Skizzenbuch besessen haben, das nach seinem Tod verloren ging. Und als der englische Kunstkritiker selbst eines geschenkt bekam, benannte er es kurzerhand nach dem alternativen Namen des von ihm geschätzten Denkers: „Bentos Skizzenbuch“.

Das jüngste Werk des 1926 geborenen Bergers, der seit 50 Jahren in einem französischen Alpendorf wohnt, ist sein bisher persönlichstes. Darin stehen ganz private Reminiszenzen neben Alltagsbeobachtungen und Analysen. Hier scheint Bergers seit seinem kanonisch gewordenen Werk „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens“ bewunderte Fähigkeit auf, Ästhetik mit Welt und Geschichte zusammenzudenken. Ob er nun an seinen ersten Verleger, den unorthodoxen Kommunisten Erhard Frommhold in Dresden, erinnert, über die wechselnde Form einer Traube Zwetschgen in seinem Garten nachdenkt oder die „Gesichter der neuen Tyrannen“ beschreibt.

Vor allem ist Berger eine Poetologie des Zeichnens geglückt. Denn seine wunderbar beiläufigen Vignetten hat er mit Leitsätzen aus Spinozas „Ethik“ und eigenen Bildern kombiniert: Skizzen von Irisblüten, einem Fahrrad, einer befreundeten Tänzerin. Beim täglichen Umgang mit dem Stift fasziniert den Theoretiker, „an so etwas wie einem körperlichen Vorgang“ teilzunehmen. Wer zeichne, strebe „nach einer Berührung mit etwas Ursprünglichem“. Kein Wunder, dass der begeisterte Motorradfahrer die Spur seines Gefährts auf der Straße als „eine auf die Erde gezeichnete Linie“ definiert. Das Verlagslob „Kunstwerk“ für Bergers Fingerübungen ist vielleicht etwas hoch gegriffen. Baruch de Spinoza hätten sie aber bestimmt gefallen. Belegen sie doch genau seine Idee: wie sich Körper und Geist gegenseitig bedingen.

John Berger: „Bentos Skizzenbuch“. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes. Hanser, 176 Seiten, 19,90 Euro