Streetart verwandelt Jekaterinburg

Wenn Gagarin von der Wand lacht

Der Winter kann in russischen Städten düster sein: Dunkler Himmel, matschiger Schnee, graue Fassaden. Doch in Jekaterinburg im Ural bringen Graffiti-Künstler frische Farbe ins Stadtbild

Ein haushoher Juri Gagarin lacht in der russischen Stadt Jekaterinburg fröhlich von einer Wand, woanders rollt ein roter Sisyphus unermüdlich seinen türkisfarbenen Stein. Aus einer unscheinbaren Säule ist eine knallbunte Matrjoschka geworden. All diese Wandbilder in der Millionenstadt am Ural gehören zum Streetart-Festival "Stenograffia". 1400 Kilometer östlich von Moskau liegt Russlands Tor nach Sibirien, im Sommer 2018 wird die Stadt ein Spielort der Fußball-WM sein.

Der Festival-Koordinatorin Anna Klez liegt ein Kunstwerk besonders am Herzen, das erst vor wenigen Tagen fertiggeworden ist: Es kombiniert übergroß die Grafik von Schaltkreisen mit Sätzen in Blindenschrift. Klez streicht mit dem Finger über die kleinen, halbrunden Knubbel der Brailleschrift an der Wand. Mit dem schwarz-weißen Wandbild endet das Festival in Jekaterinburg 2017.

 

Das etwa 20-köpfige Team in der Agentur Streetart, gegründet von Jewgeni Fatejew, sorgt seit sieben Jahren dafür, dass die Stadt ein wenig bunter wird. 2010 organisierte der heute 42-Jährige das Festival für Straßenkunst in seiner Heimatstadt zum ersten Mal. Heutzutage ist Jekaterinburg russlandweit für Streetart bekannt. 

Mittlerweile zieren rund 90 Kunstwerke Häuserfassaden der Stadt. Das Festival hat expandiert und läuft auch in neun anderen Städten wie St. Petersburg, im sibirischen Omsk und Tomsk sowie in Magnitogorsk, Orenburg oder Nojabrsk. Auch zwei Dörfer am Polarkreis, Nowy Port und Mys Kamenny, machen seit Kurzem mit. Ein Foto mit einem Kunstwerk auf der Wand eines allein stehenden Hauses mit Polarlicht im Hintergrund ging um die Welt.

Die Stadtverwaltung von Jekaterinburg unterstützt das Festival. Das Bemalen der Wände ist im Rahmen von "Stenograffia" legal. Wie haben die Behörden anfangs auf die Streetart reagiert? "Gut!", antwortet Agenturchef Fatejew. "Warum sollten sie es schlecht finden? In Berlin, Barcelona und Prag kommt das ja auch gut an." Der staatsgelenkte Gaskonzern Gazprom sei sogar Sponsor des Festivals.

Die Organisatoren des Streetart-Festivals "Stenograffia", Jewgeni Fatejew, Konstantin Rachmanow, Andrej Kolokolow und Anna Klez (v.l.n.r.)

 

"Am Anfang war es nicht so einfach, die Eigentümer zu überzeugen, ihre Hauswände zur Verfügung zu stellen", berichtet Anna Klez, die seit 2011 zum Team gehört. "Wenn die Besitzer und Bewohner dann aber sehen, wie schön die Wände am Ende aussehen, sind die meisten überzeugt." Nun sei es kein Problem mehr, neue Flächen zu finden, um sie den Künstlern zur Verfügung zu stellen. 

Jeden Sommer zieht die Industriestadt Streetart-Künstler an: Zwischen zehn und zwanzig neue Bilder sprühen sie jeweils an die Wände. Es kämen nach wie vor Ausländer, um in Jekaterinburg zu malen - etwa aus Deutschland, den Niederlanden oder Spanien. Das sei ja Kunst und keine Politik, betont Fatejew. Ob ihre Werke eine politische Botschaft enthielten, entscheide jeder Künstler für sich.

So reichen die Motive von typisch russischen wie der Matrjoschka bis zu sozialkritischen wie dem Sisyphus-Wandbild. Die Figur war der griechischen Sage nach dazu verdammt, einen Stein auf einen Berg zu schieben. Doch immer kurz bevor Sisyphus den Gipfel erreicht, rollt der Stein wieder ins Tal. Seine Arbeit verliert ihren Sinn. Die Kugel dieses russischen Sisyphus besteht aus Sofa, Fernsehen, Turnschuhen und anderen Konsumgütern. 

Einer, der immer zum Malen nach Jekaterinburg kommt, ist der ukrainische Streetartist Andrej Palwal. Er stammt aus Charkiw. Auch auf dem Höhepunkt der Russland-Ukraine-Krise kam Palwal nach Jekaterinburg und malte im Sommer 2014 im Rahmen des Festivals den russischen Kosmonauten und Volkshelden Juri Gagarin an eine Wand.

Der Raumfahrer trägt auf dem Straßenkunstwerk eine Militäruniform. Lächelnd hält er eine weiße Friedenstaube in der Hand. Wer gegenüber an der Kreuzung warten muss, dessen Blick fällt unweigerlich auf das Kunstwerk. Der mehr als zehn Meter hohe Gagarin überragt die umstehenden Häuser. 

Nur ein Problem mit den Bildern unter freiem Himmel gibt es: Wegen der Kälte blättern viele der gesprühten Werke nach einiger Zeit samt Putz von den Wänden ab. Andere werden von Handwerker bei Renovierungen übertüncht. Teilweise wurde das ursprüngliche Kunstwerk schon vier Mal mit einem neuen übermalt. So ändert sich das Stadtbild immer wieder. Die Organisatoren verstehen die Streetart als ein Geschenk an die Bewohner und als die Sprache der Stadt.

Ein Wandbild zeigt im Zentrum von Jekaterinburg eine Matrjoschka.