Glosse

Mythos Love

Ihre Tochter malt, und auch Courtney Love selbst muss irgendwas mit Kunst zu tun haben. Jedenfalls legte die Sängerin und sogenannte Skandalnudel gerade einen denkwürdigen Auftritt mit Anselm Kiefer hin. Letzten Mittwochabend saß Love mit Gitarre in der Lobby des Mercer Hotels im New Yorker Stadtteil Soho und gab angetrunken mit einer Gruppe von Freunden ein Spontankonzert. Den New-York-Times-Journalisten Eric Wilson, der eigentlich ein Interview mit ihr führen sollte, schickte sie schon mal vor auf ihr Zimmer. „Ich brauche nur 30 Minuten“, sagte sie dem nicht nur über ihr verrutschtes, trägerloses Kleid irritierten Autor.

Es verging eine Stunde, in der der Reporter Zeit genug hatte, in Courtney Loves Zimmer Designerklamotten und Selbsthilfebücher zu studieren („Wie man sich auf der Stelle mit jedem verbindet“, „Reden wie ein Gewinner“), als die Tür aufging und der Rockstar hereingepoltert kam, „in der einen Hand ihr inzwischen heruntergerutschtes Marchesa-Kleid und an der anderen den bekannten deutschen Neo-Expressionisten Anselm Kiefer“, schreibt Wilson atemlos in der Montagsausgabe der New York Times. „Sie war komplett nackt und stütze sich auf Mr. Kiefer.“

Der 1945 geborene Künstler hielt sich in New York auf, weil er in der Galerie Gagosian eine Ausstellung eröffnen wollte – seine erste seit 2002. Was allerdings dann dazu führte, dass Anselm „Ich arbeite am Mythos“ Kiefer auf Love traf, und warum er der Sängerin nicht mehr dabei helfen durfte, sich das durchsichtige Spitzenkleid überzuwerfen („Not you!,“ habe sie zu ihm gesagt und sich stattdessen hilfesuchend an den Journalisten gewandt), konnte auch die New York Times nicht klären. „Ich muss hier wirklich raus“, soll Kiefer noch geächzt haben.
 
Am folgenden Abend eröffnete er seine Einzelschau „Next Year in Jerusalem“ . „Es gibt eine spezielle Grenze“, heißt es in der Mitteilung seiner Galerie zur Ausstellung, „eine Grenze zwischen Kunst und Leben, die sich oft unmerklich verschiebt.“