Jürgen-Mayer-H.: Architekt der verlorenen Unschuld

 

Böse Zungen sagen Architekten nach, dass sie nichts von Kunst verstünden, ja dass sie diese sogar hassten. Jürgen Mayer H., der bekannteste Avantgardearchitekt des Landes, ist im Alleingang dazu fähig, den Ruf seines Berufsstandes zu retten. Die jetzt bei Hatje Cantz erschienene Monografie über sein Werk veranschaulicht exzellent, wie umstandslos er die vertrauten Demarkationslinien zwischen Architektur, Kunst und Design übertritt.
Der Berliner Architekt, Jahrgang 1965, hat ein Faible für abgerundete Ecken. Seine Gebäude wirken oft fugenlos organisch, als stammten sie aus einem Guss. Die Karlsruher „Mensa Moltke“ zum Beispiel, eines der aufregendsten universitären Gebäude der vergangenen Jahre überhaupt, sieht mit ihrem gelblichen Exterieur aus miteinander verwobenen Streben, Schrägen und Drei­ecken aus, als sei sie aus dem Kinderspiel „Das ist das Haus vom Nikolaus“ entstanden. Und die Ludwigsburger Privatvilla „Dupli.Casa“ wirkt wie eine luxuriös ausufernde Blobmasse und lässt an James-Bond-Filme mit Roger Moore denken. Mit seinen massiv gedrängten, ovalen Formen, die an die 70er-Jahre erinnern, ohne „retro“ zu wirken, hat sich Mayer H. eine markante architektonische Sprache erarbeitet. Das sieht frisch aus und aktualisiert zugleich die ökologischen und politischen Visionen jenes verrufenen Jahrzehnts.
Doch Mayer H. bleibt nicht am Gebäude stehen, er arbeitet wie kein anderer am Objekt. Für die Lobby des Stadthauses Scharnhauser Park in Ostfildern entwarf er einen künstlichen, computergesteuerten Regenvorhang, durch den die Mitarbeiter allmorgendlich ins Büro gehen. Seine temperatur­empfindlichen Wände und Möbel wechseln ihre Farbtöne je nach Körperwärme ihres Nutzers und machen das Wohnen zu einer Art futuristischer Performance. Datensicherungsmuster aus der Innenseite von Bankbriefumschlägen verwandelt er in sensorische Wandbekleidungen, Gästebuchseiten und Bettwäschesets, die ihr Geheimnis demjenigen preisgeben, der sie berührt. Im Wind schwingende Masten projizieren mithilfe von Glasfaserkabeln Lichtinstallationen auf den Boden. Fluoreszierende Interieurs speichern Tageslicht und geben es nachts langsam wieder ab.
Der Überblicksband kommt genau zum richtigen Zeitpunkt in der Karriere des Architekten. Nächstes Jahr wird sein bisher ambitioniertestes Projekt, „Metropol Parasol“ in Sevilla, eingeweiht. Dafür hat er einen brach liegenden öffentlichen Platz im Stadtzentrum in einen gigantischen Parcours aus ineinander verschränkten, pilzartigen Turmstrukturen transformiert. Die Aussichtsplattformen schaffen verschiedene Sonnen-, Schatten-, Wind- und Regenregionen und damit eine Reihe heterogener öffentlicher Räume. Ein Museum, das Einblicke in die archäologischen Fundamente des antiken Sevilla gibt, ist darunter, außerdem ein Theaterraum, ein Konzertplatz und eine Markthalle. Die Plaza ist der Traum eines jeden Flaneurs.
Dieses Projekt ist eines von vielen, das der Band ausführlich mit Fotos, Baudokumentationen und Entwurfszeichnungen illustriert. Anspruchsvolle Essays von Autoren wie Philip Ursprung, John Paul Ricco und Felicity D. Scott loten zudem die oft übersehene konzeptuelle Ebene der Arbeit von Mayer H. aus. Dass er sich von Nüchternheit, Erkennbarkeit und Transparenz abwendet, immerhin den Leitidealen der zeitgenössischen Architektur, ist auch ein politisches Programm.
Die Architektur hat für Mayer H. schon lange ihre Unschuld verloren. Zu sehr ist sie von den Kontrollmechanismen einer Überwachungskultur geprägt, als dass sie noch irgendeine Ehrlichkeit vortäuschen könnte. Die Oberflächen seiner Gebäude sind undurchdringlich, opak. Bewusst verstecken sie ihre Materialbeschaffenheit und halten ihre wahre Natur geheim. Architektonische Lebensräume werden bei Mayer H. immer auch zu Denkräumen. What you see, is NOT what you get, scheint er zu sagen. Think about it!
Mayer H. schafft es, seine ausgefallenen Entwürfe tatsächlich zu errichten, anstatt sie, wie üblich, lediglich auf Kunstmessen zu präsentieren und dann für die zahlende Kundschaft brave Bürogebäude aus Beton und Spiegelglas zu bauen. Und dafür muss­te der Berliner nicht einmal nach Los Angeles, New York oder Dubai ziehen.
In der Monografie erfährt man auch vom Ursprung seines aparten Namens. Aus „Jürgen H. Mayer“ machte der Architekt nach seinem Studium in Princeton „Jürgen Mayer H.“, wie sich der SFMOMA-Kurator Henry Urbach erinnert, weil „Mayer“ in Deutschland ein zu gewöhnlicher Name sei, um berühmt zu werden. Daraus wurde dann ein „JÜRGEN MAYER H.“, bis er sich schließlich für die Kurzform „J. MAYER H.“ entschied. Eine Verschleierungstaktik, die nicht zufällig der seiner Arbeit ähnelt. Die Strategie hat sich ausgezahlt. Deutschland hat mit ihm seinen Stararchitekten gefunden. Und es ist schön, dass es einer ist, der etwas von Kunst versteht.

Das San Francisco Museum of
Modern Art (SFMOMA) zeigt noch
bis 7. Juli „Patterns of Speculation“, eine Ausstellung von Arbeiten des Architektur­büros J. Mayer H.
„J. MAYER H.“, Hatje Cantz,
240 Seiten. 49,80 Euro